Katharina Manderscheid: Soziologie der Mobilität, Bielefeld: transcript Verlag, 2022 (= Einsichten. Themen der Soziologie; utb 5581), ISBN: 978-3-8252-5581-7, 216 Seiten, 22,00 € (Open Access im PDF-Format)
Rezension von Markus Henning
Die Menschheitsgeschichte ist durchzogen vom Unterwegssein, vom globalen Wandern, von Wohnortwechseln über Distanzen und soziale Kollektive hinweg. Die fortwährende Bewegung von Personen, Gütern, Informationen, Bildern und Symbolen ist seit jeher fundamentaler Bestandteil der Vergesellschaftung.
Und doch überwiegen im Alltagsverständnis und im öffentlichen Diskurs die Vorstellungen und Ideale einer statischen, gleichsam festgezurrten Normalität. Unter Verwendung von botanischen Begrifflichkeiten wie „Verwurzelung“ oder „Entwurzelung“ werden persönliche Identitäten, Kulturen und Gesellschaften mit geographischen Räumen in eins gesetzt. Das ist keineswegs harmlos. Dieser territorialen Naturalisierung wohnt eine Dynamik der Menschenverachtung inne. Sie begegnet uns in den Kriegen dieser Welt. Sie begegnet uns aber auch in dem völkischen Hirngespinst von ethnischer Homogenität, mit dem Neofaschisten ihren Vernichtungsphantasien Lauf lassen und zum Sturm auf Vielfalt, Freizügigkeit und liberale Demokratie blasen. Was sie damit radikalisieren, ist der Nationalstaat. Zu seinen Strukturprinzipien gehören sozial-territoriale Grenzziehungen ebenso wie gewaltförmig durchgesetzte Hierarchien von Eigenem und Fremdem, von Zugehörigkeit und Ausschluss.
Nationalstaatliches Denken stand auch an der Wiege moderner Sozialwissenschaft. Das ist eine Erbschaft, die noch heute viele ihrer Annahmen, Begriffe und Untersuchungsmethoden durchdringt. Grundlegende Konzepte von Soziologie und Volkswirtschaftslehre folgen einem „Sesshaftigkeitsparadigma“. Sie beziehen sich zumindest implizit auf immobile, räumlich determinierte Einheiten. Sehr zum Schaden globalen Krisenmanagements legen sie damit den Fokus einseitig auf Stabilität und Bewahrung. Ihre Analysen neigen zu Standbildern und klammern Mobilitäten als Gestaltungselement des Sozialen aus.
Hiergegen meldet sich seit knapp zwei Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Community Widerspruch. Unter dem Label „Mobilities Paradigm“ wird das Denken zu neuer Beweglichkeit angestiftet. Es geht um eine ganzheitliche, prozessuale Perspektive auf Mobilität, Verkehr, technische und gebaute Umwelt, gesellschaftliche Relationen und Netzwerke. Das dynamische Ineinanderwirken dieser Faktoren muss in den Blick genommen werden. Nur unter Berücksichtigung der ihnen eingeschriebenen Mobilitätsformen lässt sich ein zukunftsfähiges Verständnis von Alltagspraktiken, gesellschaftlichen Formationen und ihrer Veränderbarkeit gewinnen.
Zu diesem jungen und nach vorne offenen Forschungsprogramm hat Katharina Manderscheid eine Handreichung verfasst. Sie ist im Bielefelder transcript Verlag erschienen und trägt den Titel Soziologie der Mobilität. Hierin – und deswegen ist dieses Buch in unseren Augen so bedeutsam – öffnet die Autorin das neue Paradigma für eine herrschaftskritische Lesart.
Ihr gelingt das, indem sie die Existenz und Wirksamkeit unterschiedlicher Bedeutungsebenen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Als individuelle oder kollektive Eigenschaft umfasst Mobilität mehr als die rein physische Distanzüberwindung. Sie enthält stets auch eine symbolische, affektive und soziale Beziehungsdimension.
Mobilitäten sind verwoben in Selbstverständnisse, Lebenswelten und gesellschaftliche Makrostrukturen. In einer von staatlicher und ökonomischer Herrschaft bestimmten Gesellschaftsordnung finden sich Bewegung und (relatives) Stillstehen daher von vornherein in einem machtstrukturierten Verhältnis wieder. Mobilitätspraktiken funktionieren immer auch als Element und Bedingung von Hierarchien, welche ihrerseits zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Ungleichheiten zwischen Menschen, Orten und Territorien beitragen.
Räumliche Mobilität kann eine Machtressource sein, die mit Statusgewinn verbunden ist. Sie kann die Fähigkeit meinen, Dinge und Menschen in Bewegung zu setzen. Sie kann aber auch ein Ausdruck von Benachteiligung und Diskriminierung sein. Dann wirkt sie als Zwang und kann im Extremfall zu Entrechtung und Dehumanisierung führen.
Dabei ist die Wertschätzung mobiler Menschen und Dinge immer abhängig von gesellschaftlichen Diskursen und herrschaftlich vermittelten Entscheidungen. Sei es bei der internationalen Migrationspolitik. Sei es bei den völlig anders sanktionierten Grenzübertritten im Bereich Tourismus und Reisen. Sei es bei der weltwirtschaftlich orchestrierten Mobilität von Waren, Finanzmitteln und Arbeitskräften. „Das Versprechen der Moderne, das Mobilität mit Freiheit gleichsetzt, ist gerade nicht verallgemeinerbar, sondern bezieht sich auf die ökonomisch produktiven Mobilitäten und fungiert damit auch als Differenzierungsfilter“ (S. 170).
In den Industrieländern des globalen Nordens hat die Verbindung von Moderne und Mobilität im 20. Jahrhundert die spezifische Form des motorisierten Individualverkehrs angenommen. Die Hegemonie des privaten Autos prägt bis heute die ökonomische und räumliche, die lebensweltliche und ökologische Entwicklung der betreffenden Gesellschaften. Sie ist Teil von deren Strukturen geworden.
Dem widmet Katharina Manderscheid eine detaillierte Fallanalyse (S. 63-88). Ihr mehrdimensionaler Ansatz eröffnet auch grundsätzliche Zugänge zur klimapolitisch längst überfälligen Verkehrswende. Deutlich wird, dass die gesellschaftliche Organisation von Personenmobilität über das Auto keineswegs aus einer funktionalen Notwendigkeit entstanden ist. Der PKW hat sich nicht etwa deswegen gegen ökologisch verträglichere Formen durchgesetzt, weil er die technisch beste Lösung für das Verkehrsproblem war. Das Automobilitätsregime war und ist immer nur ein möglicher Entwicklungspfad neben anderen:
1) Automobile Materialität. Von Beginn an war die fossile Automobilindustrie eingebunden in zentrale Rohstoffströme der globalen Wirtschaft (Stahl, Öl, Benzin). Die damit verbundenen sozialökonomischen Interessen flossen in eine Vielzahl gesellschaftlicher, rechtlicher und politischer Institutionen ein. Sie materialisierten sich in fixierten Rahmenbedingungen mit weitreichendem Einfluss auf die öffentliche Stadt- und Verkehrsplanung. Die automobile Zurichtung von öffentlichen Räumen, Verkehrswegen, Siedlungs- und Infrastrukturen wurde aktiv und strategisch vorangetrieben, häufig gegen erhebliche Widerstände. „So entschied beispielsweise der Berliner Senat Anfang der 1960er Jahre, die Straßenbahn in Westberlin, mit der zu diesem Zeitpunkt mehr Menschen befördert wurden als mit allen anderen Verkehrsmitteln zusammen, abzuschaffen, noch bevor Autos zum Massenverkehrsmittel geworden waren“ (S. 68).
2) Automobile Normalitätsvorstellungen. Kulturelle Produktionen, Werbung und Narrative haben den motorisierten Individualverkehr symbolisch mit Motiven wie „Freiheit“, „Individualität“, „Fortschritt“, „gesellschaftliche Teilhabe“ und „Sicherheit“ verbunden. Diese Bedeutungsaufladungen sind in das Kollektiv- und Alltagswissen eingewandert, haben sich zu einem automobilen Habitus verdichtet, der Denken, Handeln und Routinen strukturiert. Automobilität wurde so zur verinnerlichten, größtenteils vorbewussten und unhinterfragt reproduzierten Selbstverständlichkeit, die nur bedingt für rationale Argumente zugänglich ist.
3) Automobile Praktiken. Historisch sind aus der Verfügbarkeit und Normalität des Autos vielfältig verknüpfte Alltagspraktiken entstanden. Die überwiegende Zahl der Wege und Strecken, die mit dem Auto zurückgelegt werden, sind Teil anderer Tätigkeiten, z.B. von Erwerbs- oder Care-Arbeit, von Konsum, Freizeit oder Reisen. „Diese Verknüpfungen werden fortwährend durch die siedlungsräumlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie durch wiederholte Ausführung stabilisiert und aufrechterhalten. In der Konsequenz wurden Autofahrten in vielen Situationen und an vielen Orten tatsächlich zur notwendigen und weitgehend alternativlosen Bedingung, um Zugang zu sozialen Kontakten, Gelegenheitsstrukturen oder Aktivitäten zu erhalten und darüber Teil der Gesellschaft zu sein. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten, ein Auto zu besitzen und/oder zu fahren, gesellschaftlich ungleich verteilt […]“ (S. 81).
4) Automobile Subjekte. Der Führerscheinerwerb kann als eine Art Initiationsritus des modernen Individuums betrachtet werden. Er steht für den Aufforderungscharakter und die Sozialisationswirkung idealtypischer Leitbilder des Automobilismus. „Die Konstitution dieses modernen, automobilen Subjektes geht dabei einher mit der gleichzeitigen Erzeugung anderer mobiler Subjektivierungen, Fußgänger*innen, Radfahrer*innen oder ÖPNV-Nutzer*innen, die dem automobilen Subjekt nachgeordnet und auf speziell gekennzeichnete Flächen der Straße verwiesen werden“ (S. 86). Allerdings sind diese Vorstellungswelten schon lange nicht mehr ungebrochen. Besonders in urbanen Räumen geht die gesellschaftliche Bedeutung des eigenen Autos tendenziell zurück. Damit droht auch dem automobilen Subjekt ein Abstieg.
5) Keimformen der Verkehrswende. Im Kampf gegen die menschengemachte Klimakatastrophe greift es allerdings zu kurz, der anhaltenden Wachstumsdynamik des motorisierten Verkehrs lediglich durch individuelle Appelle, Aufklärungskampagnen oder rein technische Lösungen begegnen zu wollen. Nicht von ungefähr stehen hinter diesen reduktionistischen Ansätzen häufig machtpolitische Strategien, die gesellschaftliche und ökonomische Ordnung unangetastet zu lassen. Katharina Manderscheid betont nachdrücklich, „[…] dass eine Verkehrswende umfassende Veränderungen notwendig macht – Anpassungen der Siedlungsstrukturen, der Verkehrswege, der Fahrzeug- und Antriebstechnologien und deren Zugänglichkeit, aber auch den Aufbau von Kompetenzen, ohne Auto unterwegs zu sein, niederschwellige Möglichkeiten, alternative Verkehrsmittel auszuprobieren, wie das 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr […], oder auch die Etablierung einer Normalität, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad unterwegs zu sein […]. Zudem sind auch die Rahmenbedingungen des Alltags in den Blick zu nehmen wie Arbeitszeiten und -orte, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder und Wohnungsmärkte […]“ (S. 112 f.). Best Practice-Beispiele, die auf eine Unterordnung des Autoverkehrs unter die Aufenthaltsqualitäten im Quartier zielen, entfalten inspirierende Wirkung: Von Amsterdam Westerpark über Wien Florisdorf und die Superblocks in Barcelona bis hin zum Leitbild der 15-Minuten-Stadt in Paris. Direkte Aktionen wie die „Critical Mass“-Fahrradkorsos lassen provisorisch aus der Unwirtlichkeit urbaner Autostraßen gegenkulturelle, hierarchiefreie Räume entstehen.
Diese Vorreiterprojekte sind Teil der sozial-ökologischen Transformation. Als Vorschuss auf ein menschengerechtes statt autogerechtes Leben rütteln sie an den Selbstverständlichkeiten und Wissensbeständen des Alltags, stellen damit aber auch die Herrschaft kapitalistischer Mobilitäten insgesamt infrage.
Diesen Zusammenhängen hat Katharina Manderscheid nachgespürt. Ihre Soziologie der Mobilität ist ein kraftvolles Buch, das in die Zukunft weist. Wir wünschen ihm weite Verbreitung.