Mehr Demokratie e.V.: Was bewegt Berlin? Zukunft der Mobilität, Online-Talk zum Berliner Klima-Bürger:innenrat am 12. Mai 2022
Veranstaltungsrezension von Markus Henning
Das Auto nimmt uns die Luft zum Atmen und den Platz zum Leben. Über Jahrzehnte war es Leitbild von Verkehrspolitik, Raum- und Stadtplanung. Gepuscht von einer mächtigen Wirtschaftslobby hat sich der motorisierte Individualverkehr tief in unsere Alltagsroutinen eingegraben und zum kulturellen Syndrom verfestigt. Im Gegensatz zu anderen Sektoren wie Energiewirtschaft, Industrie und Gebäude gab es im Verkehrsbereich während der letzten dreißig Jahre keine nennenswerte Senkung von Treibhausgas-Emissionen. Auch Verkehrslärm, Feinstaubbelastung und die automobile Zurichtung öffentlicher Räume nahmen nicht ab. Im Gegenteil: Seit 1992 hat sich hierzulande die Anzahl zugelassener PKW um gut ein Drittel erhöht. Mittlerweile kommen 48,5 Millionen PKW auf knapp 41 Millionen Privathaushalte. Ungebremst wächst die Blechlawine weiter, überrollt alles menschliche Maß und erzeugt dysfunktionalen Dichtestress.
Wir brauchen ein neues Verkehrssystem, um unsere Städte zukunftsfähig zu machen. Was sind die Bausteine für eine klima- und sozialgerechte Mobilität im urbanen Raum? Und wie können sie in unsere Lebensrealität eingefügt werden?
Diesen Fragen widmet sich auch der Berliner Klima-Bürger:innenrat. Einberufen wurde er im April 2022 von der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz. Angestoßen und durchgesetzt hat ihn jedoch die Initiative Klimaneustart Berlin, die zwei Jahre zuvor über ein Volksbegehren 30.000 Unterschriften für ein derartiges Beteiligungsprojekt sammelte. Der Klima-Bürger:innenrat besteht aus 100 freiwillig und ehrenamtlich engagierten Menschen, die als bunte Mischung aus einer größeren Zufallsstichprobe ausgewählt wurden und nach quotierten Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Wohnbezirk und Migrationsgeschichte die Diversität der Stadtgesellschaft repräsentieren. Assistiert von sog. Themenpat:innen beraten sie in einem geschützten Raum kommunikationsfreundlicher Kleingruppen und gemeinsamer Diskussionsforen über insgesamt acht Sitzungen hinweg die Umsetzung der städtischen Klimaziele. Nach abschließender Aushandlung wird der Klima-Bürger:innenrat Ende Juni 2022 seine konkreten Handlungsempfehlungen an den von Senatsseite eingesetzten Klimaausschuss übergeben.
Ob diese Empfehlungen politisch dann auch umgesetzt werden, bleibt abzuwarten, ist aber auch nicht das einzige Erfolgskriterium. Formate wie der Klima-Bürger:innenrat können weit mehr sein als regierungsamtlich bestellte Dienstleister. Sie sind Keimformen einer neuen Kultur von Partizipation, politischem Miteinander und sozialer Verständigung, einer Kultur also, wie wir sie für den anstehenden Transformationsprozess dringend brauchen.
So wird das auch vom Verein Mehr Demokratie e.V. gesehen. Er bemüht sich um eine Brücke zwischen Klima-Bürger:innenrat und Stadtgesellschaft, sammelt zivilgesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsverbände in einem Begleitkreis und versucht, über themenzentrierte Publikumsrunden kollektive Lernprozesse weiterzutragen.
Der Berliner Klima-Bürger:innenrat hatte sich in zwei Sitzungen mit dem sog. Umweltverbund und seinen Potentialen – also mit dem Zusammenspiel von Öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV), Fahrrad- und Fußverkehr – sowie mit dem Konzept der emissionsfreien und flächengerechten Innenstadt befasst. Am 12. Mai 2022 griff Mehr Demokratie e.V. diese Themen in einem öffentlichen Online-Talk auf. Das gab den geladenen Fachleuten die Gelegenheit, im Diskurs mit einer ebenfalls eingeladenen Teilnehmerin des Klima-Bürger:innenrates und dem zugeschalteten Publikum Ansatzpunkte und Zukunftschancen einer städtischen Mobilitätswende auszuloten. Dabei trat Inspirierendes zutage, das zum Mit- und Weiterdenken reizt.
Da ist z.B. der aus ökologischer Perspektive zunächst überraschend anmutende Gedanke, dass ein entscheidendes Qualitätskriterium nachhaltiger Mobilität ihre Effizienz ist. „Wir brauchen möglichst viel Mobilität mit möglichst wenig Verkehr!“, so beschrieb Heiner von Marschall, ÖPNV-Experte und Landesvorsitzender im gemeinnützigen VCD Nordost, das Leitbild seines Verbandes. Was den urbanen Flächenverbrauch je zurückgelegtem Personenkilometer angeht, ist das private Auto das mit Abstand ineffektivste Verkehrsmittel – und das ganz unabhängig davon, ob es mit fossiler oder mit elektrischer Energie fährt. Im Durchschnitt wird jeder PKW pro Tag gerade mal eine Stunde bewegt und blockiert die restliche Zeit als „Stehzeug“ mindestens 10 m2 des öffentlichen Raums. Das ist ein erhebliches Problem für die Entwicklung der klimaresilienten Stadt, die zuallererst eine großflächige Entsiegelung von Verkehrs- und Parkraumflächen verlangt. Gerade unter diesem Gesichtspunkt forderte Heiner von Marschall einen möglichst zügigen Ausbau des schienengebundenen ÖPNV, solidarisch finanziert durch eine sozial abgestufte Nahverkehrsabgabe. Besonders die Straßenbahn (Tram) erfüllt wichtige Nachhaltigkeitskriterien wie Transporteffizienz und Barrierefreiheit. Straßenbahngleise können in Grünflächen verlegt werden und ermöglichen aufgrund des geringeren Rollwiderstandes (Stahl auf Stahl statt Gummi auf Asphalt) eine deutlich bessere Klimabilanz, als sie etwa ein E-Bus aufweisen kann.
Aus Sicht der Berliner Wirtschaft betonten Gernot Lobenberg und Simon Margraf ebenfalls die Notwendigkeit, den privaten Kfz-Verkehr deutlich zurück zu drängen. Als Schlüsselmaßnahmen schlug Lobenberg eine mutige Parkraumbewirtschaftung und die Einführung einer nach Emissionen und Tageszeit gestaffelten City-Maut vor. Er leitet die Berliner Agentur für Elektromobilität eMO und berichtete, dass sich immer mehr Unternehmen aktiv mit dem ganzheitlichen Ansatz eines „betrieblichen Mobilitätsmanagements“ auseinandersetzen. Simon Margraf ist Bereichsleiter Wirtschaft & Politik bei der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). Genau wie Lobenberg sprach er sich für eine zielgerichtete Priorisierung von Verkehrsströmen aus. Vorrang genießen müsse der Wirtschaftsverkehr (Ver- und Entsorgung), ohne den die Stadt nicht lebensfähig sei. Was von diesem nicht auf umweltfreundliche Verkehrsmittel, z.B. auf gewerblich genutzte Lastenfahrräder, umgelenkt werden kann, hat dann eben mit möglichst kleinen Fahrzeugen elektrisch zu fahren, am besten im Car-Sharing-Betrieb.
Innovative Ansätze für die Ermöglichung neuer Mobilitäts- und Begegnungsformen im öffentlichen Raum präsentierte Kerstin Stark. Sie schlug vor, eine „Freie-Straßen-Prämie“ für alle Menschen auszuloben, die sich bereitfinden, ihr privates Kraftfahrzeug abzuschaffen. Stark bekleidet einen Vorstandsposten bei Changing Cities e.V., einer Verkehrswende-NGO, die kreativ und laut für lebenswerte Städte, sicheres Radfahren und gute Mobilität kämpft. In der Vergangenheit machte der Verein mit Projekten wie dem „Volksentscheid Fahrrad“ Furore, aus dem 2018 in der Stadt Berlin ein für deutsche Verhältnisse einmalig ambitioniertes Mobilitätsgesetz hervorging. In Anlehnung an die „Superblocks“ in Barcelona unterstützt Changing Cities e.V. aktuell die Idee der „Kiez-Blocks“. Das sind vom Durchgangsverkehr befreite Wohnviertel, deren innerer Bereich als menschlicher Aufenthaltsraum mit Grünanlagen, Spielplätzen, Cafés und gut ausgebauten Radwegen funktioniert. Im Raum steht die konkrete Utopie einer dezentralisierten Stadt der kurzen Wege, in deren Vierteln alle wichtigen Anlaufstationen (wie Supermärkte, Schulen, Arztpraxen und Restaurants) fußläufig zu erreichen sind.
Durch veränderte Verhaltensmuster muss schon im Hier und Jetzt mit der Realisierung begonnen werden. Das erläuterte Roland Stimpel. Er ist Stadtplaner, Journalist und Sprecher bei FUSS e.V., dem Fachverband Fußverkehr Deutschland. Worauf es ankommt, ist eine Umkehr der im Straßenverkehr wirkenden Hierarchie von Schnell und Langsam: Schaffen wir positive Anreize, kurze Wege wieder langsam zu bewältigen, und machen wir es ein bisschen schwieriger, lange Wege schnell zurück zu legen! Komfortable Bustrassen; sichere Radspuren; breite, freie und vernetzte Fußgängerwege: Überall zu realisierende Ansatzpunkte, die Menschen spüren und erkennen lassen, dass es sich bei einer anderen Verkehrsmittelbenutzung um die angenehmere handelt. Diese von Stimpel verfochtene „Salamitaktik“ macht erlebbar, dass das eigentliche Mobilitätsziel ein entspannter Alltag ist.
Moderatorin des Online-Talks war Andrea Reidl. Sie ist freie Autorin im Ressort Mobilität und arbeitet u.a. für RiffReporter, der Genossenschaft für freien Journalismus. Sie fasste die Botschaft des Abends in ihrem Schlusswort treffend zusammen: Private Mobilität ohne Auto kann Spaß und die Stadt deutlich lebenswerter machen! Bei all dem aber nicht den Wirtschaftsverkehr vergessen!
Die Einbettung der Berliner Verkehrspolitik in den zivilgesellschaftlichen Diskurs stimmt hoffnungsfroh. Sie kann auch anderen Kommunen ein Beispiel geben. Denn ohne bürgerschaftliche Aktion werden wir uns die Stadt nicht zurück erobern können. Die Verkehrswende bedarf einer umfassenden Kulturwende.