Vom Hobo-Dschungel zur kybernetischen Erneuerung des Anarchismus

Anatole Dolgoff: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung, Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 2020, ISBN 978-3-939045-40-3, 414 Seiten
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Rezension von Markus Henning

Es gibt Niederlagen, aber kein endgültiges Scheitern. Immer wenn Menschen gegen Diskriminierung, Herrschaft und Ausbeutung aufstehen, wenn sie für ihre Rechte, ihre Würde und Selbstbestimmung aktiv eintreten, bleibt etwas, das nie verloren geht. Etwas, das für ewig eingeschrieben ist in die Geschichte sozialer Befreiung. Als Vermächtnis und als Aufgabe.

Sam Dolgoff (1902-1990) nahm das persönlich. Es war seine ethische Haltung, tief empfunden und mit allen Konsequenzen. Als Organisator, Streikaktivist, Vortragsredner, Redakteur und Buchautor hinterließ er tiefe Spuren. Sein Aktionsdrang und seine Ideen schlugen Brücken zwischen libertären Traditionen, Kulturen und Generationen. Eine anarchistische Lebensreise durch das US-amerikanische 20. Jahrhundert, davon fast sechs Jahrzehnte an der Seite seiner Ehefrau Esther Dolgoff (1906-1989). Auch sie war seit jungen Jahren Anarchistin, gab ihm Halt, war seine erste Ansprechpartnerin, stritt eigenständig für ihre Ideale.

Im Netzwerk der Antiautoritären gab es wohl kaum jemanden, der die Beiden nicht persönlich kannte. Und das nicht nur aus organisatorischen Zusammenhängen oder von öffentlichen Veranstaltungen. Ihre häufig wechselnden Wohnungen in den Armenvierteln New Yorks waren Orte gelebter Solidarität und Gastfreundschaft, Anlaufstelle für Gestrandete, Durchgangsstation für Reisende, Fokus geistiger Auseinandersetzung.

Das Familienleben war von diesem Mikrokosmos nicht zu trennen. Anatole Dolgoff (geb. 1937), Sohn von Sam und Esther, beschreibt es als kollektive Biographie eines ganzen Milieus. Im Original ist sein Bericht 2016 erschienen. Der Verlag Graswurzelrevolution hat jetzt eine deutsche Übersetzung vorgelegt. Ihr Titel lautet: Links der Linken. Sam Dolgoff und die radikale US-Arbeiterbewegung.

Anatole Dolgoff folgt den Geistern der Erinnerung, nimmt die Welt seiner Eltern aus der Innenperspektive in den Blick: „Erwarten Sie keine Objektivität. Zum Teufel damit. Ich habe vieler solcher ‚objektiver‘ Berichte von Anarchist*innen und Wobblies gelesen, wenige ähneln auch nur im Entferntesten den Menschen aus Fleisch und Blut, die mit uns das Brot teilten oder auf unserer durchgelegenen Couch schnarchten. Stattdessen habe ich mich für die Wahrheit entschieden“ (S. 27).

Es ist die Wahrheit des emotional Beteiligten, der um das Geheimnis hoher Erzählkunst weiß. Selbst wo es um äußere Ereignisse, Zeitumstände oder Bewegungen geht, verliert der Autor nie die Einfühlung in seine Protagonisten. Keine Stimmung, keine Marotte, kein innerer Abgrund, keine Höhen, keine Tiefen, die nicht beschreibenswert wären. Das berührt auch uns, ist über weite Strecken komisch, manchmal tragisch, aber immer charmant, unglaublich spannend und informativ. Bei Anatole Dolgoff wird Geschichte lebendig, nimmt literarische Qualität an. Wie ja auch jede ernsthafte Lebensbeschreibung immer Lyrik, Prosa und Drama zugleich ist.

Am Anfang stehen Widerspenstigkeit, Abenteuerlust und die Suche nach einem Ausweg. „Der junge Sam, der sich mehr herumgetrieben hat als die meisten Erwachsenen in ihrem ganzen Leben und der das Beste und das Schlimmste gesehen hat, hatte eine differenzierte Sichtweise auf die menschliche Natur“ (S. 48).

Die biographischen Wurzeln seines Anarchismus liegen im New Yorker Ghetto der osteuropäischen Juden. Hier, in der Lower East Side, wächst Sam Dolgoff auf: In einer lebendigen Community mit immigrantischer Selbstorganisation und genossenschaftlichen Zusammenschlüssen. Aber auch in Armut und mit knochenharter Arbeit.

Er erlernt das Malerhandwerk, wird wegen Unbotmäßigkeit aus der Socialist Party ausgeschlossen, stößt auf den Anarchosyndikalismus und ist seit 1922 mit ganzer Seele anarchistischer Wobbly. So heißen die Mitglieder der 1905 in Chicago gegründeten Industrial Workers of the World (IWW). Eine Gewerkschaft, die den direkten Sturz des Kapitalismus anstrebt und ihre militanten Streiks wie Aufstände führt! Eine Gewerkschaft zudem, die sich an Menschen wendet, denen die reformistische Arbeiterbewegung einen vollwertigen Platz versagt! Hauptklientel der IWW sind die Wanderarbeiter (Hobos). Damals ziehen sie noch in Heerscharen durchs Land und pflegen eine Gegenkultur egalitärer Gemeinschaftlichkeit, den sog. Hobo-Dschungel. Sam Dolgoff kennt ihn noch gut aus seinen jugendlichen Fluchten in die weite Welt. Jetzt geht er für einige Jahre erneut auf Wanderschaft, teilt die prekäre Existenz der Hobos und durchstreift ihre Camps entlang der Schienenstränge, diesmal als Wobbly in libertärer Mission. „Es war sein Übergang zum wirklichen Erwachsenenalter und die Zeit seiner persönlichen Befreiung“ (S. 57).

In diese Phase fallen auch einschneidende Bildungserlebnisse. Zu seinen Mentoren werden bedeutende Anarchisten wie Walter Starrett Van Valkenburgh (1884-1938) oder Gregori Petrowitsch Maximow (1893-1950). Sie erkennen sein Talent, unterweisen ihn systematisch in sozialistischer Literatur, regen ihn zu eigenständigen Studien an. Sam Dolgoff liest wie besessen, analysiert und schreibt. Eine Leidenschaft, die nicht mehr abreißt, auch nachdem er sich Anfang der 1930er Jahre wieder dauerhaft in New York niedergelassen hat. Er wird typisch für viele der Menschen, die während der folgenden Jahrzehnte den aktiven Kern der anarchistischen Bewegung Nordamerikas bilden. „Ich glaube, die soziologische Kategorie, der sie zugerechnet werden können, lautet Arbeiterklassen-Intellektuelle. Es ist eine sehr unterschätzte und übersehene Kategorie, zumal in unserer zunehmend bürokratischen und versnobten Gesellschaft“ (S. 115).

Bis an sein Lebensende bleibt Sam Dolgoff dem Konzept des Klassenkampfes treu, verliert aber nie sein feines Gespür für aktuelle Trends. Tiefe und Breite seiner Interessengebiete sind immens. An seiner uralten Schreibmaschine sitzend verfolgt er schon seit Ende der 1950er Jahre ein Thema von wegweisender Bedeutung: „Im Gegensatz zur gängigen Auffassung, Anarchismus sei unpraktisch und utopisch, entwickle sich, so Sam, unsere fortschrittliche, kybernetische Zivilisation in Richtung anarchistischer Organisationsformen. Sam stellte sich die Gesellschaft als ein sich weitgehend selbstwaltendes und selbstregulierendes Netzwerk vor. Zentralisierung, hierarchische Strukturen […] würden ineffizient und in einem solchen Umfeld nicht konkurrenzfähig bleiben […]. Die digitale Revolution habe das Potential, den Staat und das kapitalistische System auf einer funktionalen Ebene irrelevant zu machen. Gleichzeitig war sich Sam sehr darüber klar, dass dieselbe Revolution den Staat mit der Fähigkeit ausstattete, Formen von Kontrolle über das Individuum auszuüben, die weit über das hinausgingen, was sich Georg Orwell vorgestellt hatte“ (S. 346).

Der Kampf gegen hierarchische Autorität darf nicht enden. Es ist an uns, zeitgemäße Formen zu finden. Das sind wir Menschen wie Sam Dolgoff schuldig.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 3 / Juli 2021, S. 283-286)