Katja Diehl: Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt, mit Illustrationen von Doris Reich, 3. Aufl., Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2022, ISBN: 978-3-10-397142-2, 262 Seiten
Rezension von Markus Henning
Seit Jahrzehnten befindet sich unser Verkehrssystem in einem automobilen Rausch, der ungebremst und geradezu lustvoll alle Grenzen des Wachstums negiert. Die eskalierenden Dominoeffekte sind in hohem Maße gesundheits- und klimaschädlich. Die Fixierung auf den motorisierten Individualverkehr hat öffentliche Räume brachial zugerichtet. Sie hat urbane Zentren ihrer Lebensqualität beraubt und auch ländliche Peripherien als Begegnungs- und Handlungsstätten dysfunktional gemacht. Und sie reproduziert jeden Tag aufs Neue fundamentale Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von Mobilitätschancen.
Welche gesellschaftlichen Machtstrukturen haben diesen Entwicklungspfad bestimmt und schreiben ihm noch heute ihre Muster ein? In wieweit müssen auch andere Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen adressiert werden, wenn die als Rechte missdeuteten Privilegien des Autos überwunden werden sollen?
Diese Fragen beschreiben das Erkenntnisinteresse von Katja Diehl (geb. 1973). Sie ist ausgewiesene Mobilitätsexpertin und begreift die sozial-ökologische Verkehrswende als Bestandteil einer tiefgehenden gesamtgesellschaftlichen Transformation, mit der schon heute begonnen werden muss.
Gerade hat sie ein neues Buch veröffentlicht. In ihm bringt sie Alltagsbeobachtungen zum „System Auto“ zur Sprache, präsentiert praktikable Vorbilder zur Stärkung von ÖPNV, Fahrrad- bzw. Fußverkehr und verweist auf nachhaltige Zukunftsszenarien. Vor allem aber lässt sie uns an Ergebnissen ihrer soziologischen Feldforschung teilhaben.
Über vierzig themenzentrierte Interviews hat Katja Diehl geführt. Und zwar mit Menschen, deren Gemeinsamkeit bei all ihrer Heterogenität darin besteht, dass „[…] die weiße, gesunde, wohlhabende, männliche cis-Norm in unserer Gesellschaft ihnen einen Platz am Katzentisch zugewiesen und sie als ‚anders‘ deklariert hat. […] Ich habe mit den Menschen gesprochen und ihnen die Frage gestellt: ‚Willst du oder musst du Auto fahren?‘ In den Gesprächen ging es um Umstände, die nicht aus Lust hinter das Lenkrad führen, sondern aus Frust, Angst, Zwang und mangels Alternativen. Aber auch die Menschen, die nicht Auto fahren können oder wollen, habe ich interviewt. Wie lebt es sich in einer Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, einen Führerschein zu erwerben und ein Auto zu haben?“ (S. 136 f.).
Katja Diehl verleiht gesellschaftlichen Gruppen eine Stimme, die bei Planung und Ausgestaltung des Verkehrssektors normalerweise ungehört bleiben.
Wir erkennen, wie gruppenspezifische Ungleichbewertungen sich in infrastrukturelle Benachteiligungen übersetzen. Wohnquartiere einkommensarmer Bevölkerungsschichten sind überproportional von Luft- und Lärmemissionen betroffen. Menschen mit niedrigem ökonomischen Status verfügen deutlich seltener über einen eigenen Pkw als Personen mit höherem Einkommen. In unserem heutigen Mobilitätsmix verschlechtern sich dadurch ihre Zugangsmöglichkeiten zu Gütern und Dienstleistungen.
Während der letzten zwanzig Jahre sind in Deutschland die Kosten für Erwerb und Unterhalt eines Kfz um ca. 36 Prozent gestiegen, die ÖPNV-Preise aber um fast 80 Prozent. „Teure Nahverkehrstarife können dazu führen, dass Immobilität, Armut und Krankheit sich gegenseitig verstärken. Wenn beispielsweise Arzttermine mangels Geld für die Fahrkarte nicht wahrgenommen werden können, wirkt sich das auf die körperliche Verfassung aus und verringert die Möglichkeiten, einen Job anzunehmen und die Armut zu überwinden […]. Dieses Phänomen beforschen wir unter dem Begriff Mobilitätsbezogene Soziale Exklusion“ (Christoph Aberle von der TU Hamburg, zit. in: S. 181).
Aber auch, wer sich Busse und Bahnen finanziell leisten kann, verzweifelt oft an der ungenügenden Abdeckung komplexer Wegeketten. Geographisch sind hiervon meist Personen auf dem Lande, geschlechtsspezifisch vor allem Frauen betroffen, die ihre Mehrfachbelastungen durch Brotjob, unbezahlte Haushalts-, Familien- und Sorgearbeit auch mobilitätstechnisch managen müssen. Generell sind Frauen und Mädchen, aber z.B. auch People of Color und queere Menschen im öffentlichen Raum struktureller Gewalt ausgesetzt. Zu den mehrfach Marginalisierten gehören ebenso Menschen mit Handicaps und Einschränkungen (immerhin 13 Prozent der Gesamtbevölkerung), Alte und Kranke. Durch mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen und fehlende Barrierefreiheit im ÖPNV werden auch sie tendenziell ins Auto getrieben oder im Extremfall ganz abgehängt.
Was Katja Diehls Untersuchung wegweisende Kraft verleiht, ist ihre „intersektionale“ Perspektive, von der aus sie die jeweiligen Ansprüche und Bedürfnisse von unterschiedlichen Identitäten in den Blick nimmt. In ihren Fallstudien wird das patriarchale Macht- und Herrschaftsgefälle greifbar, das sämtliche Teilbereiche unserer Gesellschaft durchzieht.
„Wenn wir Mobilität verändern wollen, dann – das möchte ich mit meinem Buch verdeutlichen – müssen wir uns sehr vielen gesellschaftlich drängenden Fragen widmen. Rassismus, Sexismus, Behinderten- und Judenfeindlichkeit. Direkt hat das alles nicht mit Verkehr, mit Autos, zu tun. Indirekt aber umso mehr“ (S. 240).
Die Beharrungskraft des Automobilismus kann nur untergraben werden, wenn jeder Mensch die Möglichkeit hat, ein attraktives Leben ohne eigenen Pkw zu führen. Wir brauchen ein Grundrecht auf selbstbestimmte und wahlfreie, klimaschonende und sozialgerechte, inklusive und bezahlbare Mobilität. Wir brauchen neue Ansätze der Raumgestaltung von Stadt und Land. Wir brauchen dezentralisierte, funktionsfähige Quartiere ohne motorisierten Durchgangsverkehr. Wir brauchen barrierefreie, sichere und geschützte Stätten menschlicher Begegnung, gerade auch an Haltestellen, auf Bahnhöfen, in Bussen und Zügen. Wir brauchen einen ÖPNV, der als Einrichtung der Daseinsvorsorge nicht länger dem betriebswirtschaftlichen Diktat der Kostendeckung unterworfen ist. Und wir brauchen eine klare Priorisierung von muskelbetriebener Mobilität!
Auf den Staat kann nicht gewartet werden. Zu eng verwoben ist gerade hierzulande das Lobbygeflecht von Politik und Autoindustrie. Es gilt, zivilgesellschaftlichen Druck zu entfalten und Alternativen durch beispielhafte Aktionen ins Werk zu setzen.