„Spaziergang mit einem brillanten libertären Gesprächspartner“*

Michael Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie (1873), Einleitung v. Wolfgang Eckhardt, Übers. aus dem Russ. v. Barbara Conrad u. Ingeborg Wolf, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1999 (= Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Wolfgang Eckhardt; 4), ISBN 3-87956-233-4, 543 Seiten.

Rezension von Markus Henning

Nach drei Jahren hat im Juli 1999 die Edition der Ausgewählten Schriften Michael Bakunins (1814-1876) im Berliner Karin Kramer Verlag ihre Fortsetzung erfahren. Um es gleich vorwegzunehmen: Das lange Warten hat sich vollauf gelohnt.

Wie schon bei den ersten drei Bänden ist es dem Herausgeber Wolfgang Eckhardt auch beim neuesten Titel der Reihe gelungen, mit seiner ungeheuer sorgfältigen, kenntnisreichen und liebevollen Bearbeitung Maßstäbe zu setzen – und das nicht allein für die Bakunin-Forschung im engeren Sinne. Sein methodischer Ansatz kann ganz generell als Beispiel einer gelungenen Präsentation von Texten des klassischen Anarchismus gelten; einer Präsentation, die der konstruktiven Aneignung dieser Texte auch für die heutige Zeit neue Perspektiven eröffnet.

Erst die genaue Kenntnis des jeweiligen geschichtlichen Milieus, in welches sich die Libertären der Vergangenheit gestellt sahen, ermöglicht heutzutage ein tiefergehendes Verständnis ihrer theoretischen Entwürfe und praktischen Handlungsweisen. Erst aus dem Vergleich ihres gesellschaftlich-geschichtlichen Umfeldes mit dem unseren erhellt sich der mögliche Aktualitätsgehalt der von ihnen ausgearbeiteten Visionen eines befreiten Gesellschaftslebens.

Der heutigen Leserschaft das Rüstzeug für eine derart vorwärtsweisende Auseinandersetzung mit Schriften aus vergangener Zeit an die Hand zu geben – das ist gewissermaßen die historiographische Dienstleistung, die eine wirklich verantwortungsvolle Editionspraxis zu erfüllen hat.

Mit seiner Darbietung von Bakunins Spätwerk Staatlichkeit und Anarchie aus dem Jahre 1873 löst Wolfgang Eckhardt diesen Anspruch auf vorbildliche Weise ein und lässt damit die bisherigen deutschen Ausgaben des Textes qualitativ weit hinter sich.[1] In seiner knapp 90 Seiten langen Einleitung (S. 9-96) arbeitet Eckhardt nicht nur systematisch die Entstehungs-, Verbreitungs- und Editionsgeschichte auf, er führt auch kompetent und verständlich in den Inhalt dieser vielleicht wichtigsten Schrift Bakunins ein. Der Bogen der Darstellung umspannt ein gutes Jahrhundert: Er setzt ein bei der Emigrantenkolonie russischer Revolutionäre im Zürich der frühen 1870er Jahre und ihrer Rolle beim Zustandekommen von Staatlichkeit und Anarchie, der einzigen Buchpublikation Bakunins zu dessen Lebzeiten. Er führt weiter zu den abenteuerlichen Umständen der illegalen Einfuhr des Textes ins zaristische Rußland und seine elektrisierende Wirkung auf die dortige revolutionäre Jugend, streift die ignorant-hilflose Reaktion von Karl Marx als dem großen Antipoden Bakunins in der internationalen Arbeiterbewegung und findet schließlich seinen Abschluss bei der Wiederentdeckung der Schrift im Rahmen des antiautoritären Aufbruchs in der Bundesrepublik der späten 1960er Jahre. All dies geschieht auf solidester Quellenbasis. Der umfangreiche Anmerkungsapparat lässt erahnen, mit welchem Forschungseifer Eckhardt nicht allein deutschsprachige, sondern vornehmlich auch russische Materialien herangezogen hat, um eine wirkliche Zusammenfassung des internationalen Kenntnisstandes anbieten zu können. Hieran werden sich zukünftige Publikationen zum Thema messen lassen müssen.

Auffallend ist ferner, dass es Eckhardt trotz aller Parteilichkeit und offensichtlicher Sympathie gelingt, ein souveränes Verhältnis zu seinem Untersuchungsgegenstand zu bewahren. Nicht die schematische Heiligsprechung ist sein Anliegen, sondern ein kritisch-differenziertes Herangehen, das allein erst eine Überprüfung der Realitäts- und Gegenwartstauglichkeit von Bakunins Werk ermöglicht.

Seine inhaltliche Aufarbeitung von Staatlichkeit und Anarchie genügt sich nicht allein darin, den bleibenden Wert des Buches für die anarchistische Theoriebildung zu würdigen, insofern Bakunin hierin detaillierter und geschlossener als in früheren Schriften seine Vorstellung der Anarchie als dem „Ende der Herren und jeglicher Herrschaft“ (S. 50)ausformulierte. Auch kontroverse Aussagen Bakunins, die in unvermitteltem Gegensatz zu diesem leidenschaftlichen Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung stehen, werden beleuchtet. Bei Bakunins antisemitischen Vorbehalten etwa scheut Eckhardt sich nicht, den Finger auf eine Wunde zu legen, welche die bisherigen Herausgeber von Staatlichkeit und Anarchie – jedenfalls im deutschen Sprachraum – lieber durch peinliches Schweigen verheilen lassen wollten. Nur wo der unbedingte Anspruch auf Wahrhaftigkeit höher steht als das politisch-taktische Umgehen unbequemer Themen, ist wirkliche Aufklärung am Werk. Leider ist das auch im anarchistischen Diskurs nicht immer der Fall. Allein schon deswegen verdienen Eckhardts Aussagen zu dem genannten Themenkomplex zitiert zu werden:

„Als vollends absurd müssen schließlich Bakunins antijüdische Ausfälle gelten, die eigentümlicherweise häufig als Begleiterscheinung seiner antideutschen Haltung auftreten […]. Eine mögliche Erklärung wäre, daß Bakunin im Moment der Polemik auf tieferliegende ‚Argumentationsmuster‘ zurückgegriffen hat, die noch von seinem Elternhaus und seiner Sozialisation im russischen Feudaladel herrühren – wenn es sich nicht sogar um einen antijüdischen (vermeintlich antikapitalistischen) Gemeinplatz handelt, der von einer ganzen Reihe europäischer Sozialisten des 19. Jahrhunderts, etwa Fourier, Leroux, Blanqui und auch Marx, geteilt wurde. Aufschlußreich wäre in diesem Sinne eine Untersuchung, die in Bakunins antisemitischen Ausfällen den Anteil des Zeitgeistes im 19. Jahrhundert und familiäre und sozialpsychologische Einflüsse erkennbar machen und Erklärungen dafür finden würde, wie diese für Bakunin mit anderen, kohärenteren Stellen vereinbar waren, in denen er vehement die Forderung nach ‚absoluter Gewissens- und Kultusfreiheit‘ sowie ‚absoluter Freiheit der religiösen Assoziationen‘ vertreten hat. Bis dahin vermittelt Bakunin in dieser Frage ein widersprüchliches Bild“ (S. 51 f.)

Sehr deutlich übertrifft Eckhardt den bisher vorliegenden Bearbeitungsstand auch bei dem knapp 300 Seiten starken Text von Staatlichkeit und Anarchie selbst (S. 103-391). Als Quelle seiner Neuherausgabe dient ihm die überarbeitete Version einer ursprünglich vom Ullstein-Verlag verantworteten Übersetzung aus dem russischen Original[2], die er in einem neunzigseitigen Anmerkungsapparat mit einem detaillierten Kommentar verbindet (S. 441-531). Dessen Grundlage wiederum waren die in der alten Kramer-Ausgabe enthaltenen Fußnoten des niederländischen Bakunin-Spezialisten Arthur Lehning (1899-2000), die Eckhardt allerdings erheblich überarbeitet und erweitert hat. Im Ergebnis präsentiert sich Staatlichkeit und Anarchie erstmalig in einer Form, welche nicht nur die Schwächen der bisherigen deutschen Ausgaben konsequent aufarbeitet, sondern den über 120 Jahre alten Text auch einem mit heutigen Lesegewohnheiten ausgestatteten Publikum erschließen hilft.

Gerade für ein tieferes Verständnis der methodischen Qualität, mit welcher Bakunin in seinen historischen Analysen und theoretischen Ausführungen zu Werke geht, erweist sich das als sehr hilfreich. Im Gewande eines zwanglos-assoziativen Schreibstils bauen sich hier Argumentationsstränge einer subversiven Geschichtsbetrachtung auf, die in ihrer Radikalität auch im libertären Schrifttum ihresgleichen sucht. In weiten Passagen von Staatlichkeit und Anarchie gibt uns Bakunin auf die für ihn typische Art, sprachgewaltig, kraftvoll und fesselnd, eine ganz spezifische Perspektive auf das 19. Jahrhundert mit seinen permanenten Erschütterungen und politischen Umwälzungen. Dabei lässt er den ökonomistischen Determinismus der marxistischen Geschichtsmythologie weit hinter sich, dechiffriert vielmehr politisches Machtstreben und den Expansionsdrang verfestigter Herrschaftsapparate als die treibenden Momente der blutigen Geschichte des europäischen Kontinentes. Gerade dass er so konsequent den dialektischen Zusammenhang von Autoritätshörigkeit, innerstaatlicher Unterdrückung und aggressiv-imperialistischer Kriegstreiberei herausarbeitet, verleiht Bakunins Untersuchungen, etwa am Beispiel der deutschen Reichsgründung von 1871, ihren bleibenden Wert. Auch seine Rückschau auf die Revolution von 1848/49 führt ihn zu Ergebnissen, mit deren anarchistischem Esprit er noch so manche lahme 150-Jahrfeier der jüngsten Tage aufgemischt hätte. Wie schmerzlich vermisste man in den letzten Monaten doch einen Festredner, welcher der offiziellen historischen Zunft einmal Sätze wie diese ins Stammbuch geschrieben hätte:

„Eine Gesellschaft, die einen starken Staat gründen will, will sich notwendig auch der Macht unterwerfen; die revolutionäre Gesellschaft dagegen will die Macht abwerfen. Wie könnte man diese zwei entgegengesetzten und einander ausschließenden Forderungen in Einklang bringen? Sie müssen einander notwendig paralysieren, wie das auch bei den Deutschen geschah, die 1848 weder die Freiheit noch den starken Staat erlangt, sondern ganz im Gegenteil eine schreckliche Niederlage erlitten haben“ (S. 315 f.).

Der libertäre Blick auf Vergangenheit und Gegenwart steht bei Bakunin immer in allerengstem Zusammenhang mit seinem leidenschaftlich verfochtenen Projekt einer theoretischen Fundierung und praktischen Organisation der sozialen Revolte im Hier und Jetzt. Dies wird wohl in keiner anderen Schrift des anarchistischen Sozialrevolutionärs so greifbar wie in Staatlichkeit und Anarchie, einem wahren Steinbruch revolutionstheoretischer Einsichten, aus dem sich noch so mancher Brocken von aktueller Brisanz herausbrechen ließe. Einem Kaleidoskop der Revolte gleich jagt in lebendig-bunter Folge ein anarchistisches Highlight das andere. Aufgrund der offenen, nur lose zusammengehaltenen Struktur der Schrift gerät die Lektüre zu einer auch emotional mitreißenden Überraschungstour, in deren Verlauf sich immer wieder neue Facetten von Bakunins revolutionärem Denken auftun. Zu den besten gehört sicherlich seine in prophetischer Voraussicht und schon klassischer Formulierung proklamierte Absage an die staatssozialistischen Phantasien marxistischer Provenienz:

„Sie behaupten, daß ein […] staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur – das Mittel. So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst nötig, sie zu knechten. […] Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden, d.h. durch einen allgemeinen Volksaufstand und durch die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben“ (S. 339).

In seinen Ausführungen über die Aufgaben der revolutionären Bewegung in Russland[3] übersetzt Bakunin seine theoretischen Vorgaben schließlich in konkrete politische Handlungsvorschläge. Auch hierin gelingt es ihm auf überzeugende Weise, seine leidenschaftliche Begeisterung für die Spontaneität der revoltierenden Volksmassen mit einer ganz nüchternen Analyse der politischen und sozialpsychologischen Situation im zaristischen Russland zu verbinden und daraus die nächsten praktischen Schritte abzuleiten.

Die Souveränität dieses methodischen Brückenschlages allein wird wohl für Libertäre immer Vorbild und Verpflichtung bleiben.

Unmittelbar an Bakunins Text schließt sich im Anhang der Neuedition das Vorwort von Hansjörg Viesel zur deutschen Erstausgabe von Staatlichkeit und Anarchie aus dem Jahre 1972 an (S. 392-440). Auch das ein inhaltlich gelungener Kunstgriff des Herausgebers, mit dem die Lektüre dieser bemerkenswerten Publikation einen in jeder Hinsicht würdigen Abschluss findet. Bei Viesels Text handelt es sich um ein zeithistorisches Dokument von besonderer Brisanz. Als Versuch einer theoretischen Selbstfindung für die am Beginn der 1970er Jahre neu erstehende anarchistische Bewegung konzipiert, schlägt uns hier aus jeder Zeile ein ganz energisches Ringen um revolutionäre Erkenntnis entgegen, in dem der kulturrevolutionäre Enthusiasmus der damaligen Zeit deutlich spürbar wird. Mit dieser Produktivkraft ausgestattet erreichen Viesels Ausführungen, insbesondere bei der Behandlung von Bakunins Revolutionstheorie „der unsichtbaren Lotsen im Volkssturm“ (S. 417-420), über weite Strecken ein inhaltliches Niveau, das in der deutschsprachigen Anarchismus-Literatur seinesgleichen sucht.

Anlässlich eines Besuches von Bakunin in der Zürcher Kolonie russischer Revolutionäre im Sommer 1872 beschrieb eine Bekannte die Wirkung seiner kraftvollen Persönlichkeit wie folgt:

„Bakunin ist nach Locarno zurückgekehrt, aber in Zürich sind die Spuren seines Aufenthaltes noch spürbar; inmitten der russischen Emigration kann man ein Wogen bemerken, als sei ein Dampfer vorbeigefahren“ (S. 21).

Wer an die Lektüre von Band 4 der Ausgewählten Schriften Michael Bakunins schreitet, sollte darauf gefasst sein, am Ende ähnlich aufgewühlt zu sein. Der Rezensent will sich nicht nachsagen lassen, den Hinweis auf Risiken und Nebenwirkungen versäumt zu haben…

(Als gekürzte Fassung wurde diese Rezension erstmals veröffentlicht in: Schwarzer Faden. Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit, Grafenau, Jg. 19 / Nr. 3-1999 (Nr. 69), S. 55-58.

———————————————

Anmerkungen

* Unter diesem Motto legte Max Nettlau (1865-1944) einmal dem interessierten Publikum die Lektüre der Bakuninschen Schriften ans Herz; zit. aus der Einleitung, S. 48.

[1] Bisher lagen in deutscher Sprache die folgenden Ausgaben vor: Michael Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie, Vorwort v. Hansjörg Viesel, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1972 (2. Auflage: 1989); Michael Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, hrsg. u. eingeleitet v. Horst Stuke, Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Verlag Ullstein, 1972 (2. Auflage: 1979, 3. Auflage: 1981, 4. Auflage: 1983).

[2] Die von ihm vorgenommenen Richtigstellungen von z.T. völlig sinnentstellenden Übersetzungsfehlern der 1972er Ullstein-Ausgabe von Staatlichkeit und Anarchie weist Eckhardt detailliert auf den Seiten 532-534 nach.

[3] Besonders im Anhang A zu Staatlichkeit und Anarchie (S. 363-388). Anhang B enthält das von Bakunin verfasste Programm der slawischen Sektion in Zürich (S. 388-391).

Im Editionsprojekt Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Wolfgang Eckhardt, sind im Berliner Karin Kramer Verlag die folgenden Bände erschienen: