Rechtsradikale Strategien (auch) in Zeiten der Pandemie

Matthias Quent: Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können, Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2020 (= Schriftenreihe; 10499), ISBN 978-3-7425-0499-9, 301 Seiten

Rezension von Markus Henning

Ein schreckliches Schauspiel, wenn der Irrationalismus populär wird. Apokalyptische Bekenntnisse und Verschwörungstheorien mischen sich mit Widerstandsrhetorik. Aggressivität ist unterlegt mit Hysterie. Bizarre Hellseher, marktradikale und völkische Stichwortgeber haben Hochkonjunktur. Sie kriechen aus ihren Nischen, saugen umherwabernde Unzufriedenheit an, blasen sie als komprimierten Rassismus wieder in die Welt hinaus. Verstanden werden ihre Narrative und antisemitischen Codes nicht nur von den Populisten, Querfrontstrategen, alten Neonazis, Identitären und jungen Amok-Fans. Unter den Beifall Klatschenden finden sich auch andere: Enttäuschte Konservative. Starrsinnige aus der bürgerlichen Mitte. Sonderbare Käuze und frisch erwachte Querköpfe. Panische Anhänger der Auto- und Fleischnation.

Ein Gesamtmosaik aus kulturell Verbitterten, die um ihre Privilegien fürchten und in Rage geraten.

Genau darauf zielen rechtsradikale Strategien zur Eroberung des öffentlichen Raums. Die Anlässe sind nahezu beliebig. Hauptsache, sie lassen sich irgendwie in Stellung bringen gegen die offene Gesellschaft und gegen den Universalismus der Menschenrechte. Die rechten Netzwerke haben ein perfides Gespür für auslösende Ereignisse und für das zynische Spiel mit Lüge, Tabubruch und Schuldzuweisung. Um Menschen aufzustacheln, vorhandene Spannungen zu polarisieren und Hass auf die Straßen zu bringen, suchen sie Anschluss an bürgerliche Protestformen. Ihr Ziel ist die kulturelle Deutungsmacht als Vorstufe zum reaktionären Umsturz.

Das ist die These von Matthias Quent (geb. 1986). Er ist ausgewiesener Forscher zum Thema Rechtsextremismus und Direktor am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft der Amadeu Antonio Stiftung in Jena. Eines seiner Bücher wurde jetzt von der Bundeszentrale für politische Bildung neu aufgelegt: Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können. Eine solide Studie, verfasst vor Corona und trotzdem hochaktuell. Sie kann uns helfen, die Verwerfungen der zweiten Pandemie-Phase einzuordnen.

„Menschen, die sonst für einen starken Staat und die Einhaltung der Gesetze plädieren, reklamieren mit einem Mal das Notwehrrecht für sich, weil der Staat ihre Erwartungen nicht erfüllt und in die Hände des böswilligen Feindes gefallen scheint“ (S. 52). Sie werden zur lautstarken Kolonne im Informationskrieg, der das Internet von Rechtsaußen mit Bildern und Inhalten überschwemmt. Je faktenfreier und geschichtsvergessener die Botschaften, desto schriller die Stilmittel: „Hygiene-Demos“ gegen Kontaktbeschränkungen – Aluhüte und weiße Kittel mit selbstgenähtem Judenstern – Veitstanz der Antiaufklärung zu Rhythmen von Xavier Naidoo. Die Selbstinszenierung überschreit die eigene Unsicherheit und macht den Corona-Lockdown zum sozialpsychologischen Lehrstück.

Gesellschaftlicher Hintergrund ist die strukturell miese Stimmung bei nicht Wenigen in Deutschland. Die Hegemonie des Neoliberalismus hat ganze Arbeit geleistet. Matthias Quent referiert entsprechende Langzeitstudien. Der Anteil der Krisenängstlichen mit politischen Untergangsphantasien liegt seit den 1990er Jahren relativ stabil zwischen 31 und 45 Prozent. Die pandemiebedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind Wasser auf ihre Mühlen. Bedrohungsgefühle blockieren realitätsgerechte Neuorientierung und lassen den wahrgenommenen Handlungsdruck über Nacht ansteigen. Das macht anfällig für rechtsradikale Demagogie und kann bis zu narzisstischem Größenwahn radikalisiert werden.

„Wird die Vergangenheit zum Hort der Harmonie und die Zukunft zu einer Bedrohung verklärt, erscheint die Gegenwart dem Niedergang geweiht. Kein Wunder also, dass die populistische und radikale Rechte davon lebt, immer wieder auf die Idee der Erneuerung früherer Stärke zu rekurrieren – die in Wirklichkeit vor allem die frühere Stärke von Rassismus, Sexismus und Nationalismus meint“ (S. 198).

Matthias Quent weiß um die Grenzen des Dialogs. Notwendig sind unmissverständliche und klare Positionierungen. Gegen rechte Kader hilft allein deutliche Abgrenzung. Die Mitläufer hingegen, die Lauen, die AfD-Wähler und Bagatellisierer müssen in die moralische Pflicht genommen werden. Selbst in Situationen extremer Polarisierung ist jeder Mensch frei und verantwortlich, sich für oder gegen eine politische Option zu entscheiden. Niemand darf aus der Rechenschaftspflicht für sein Handeln entlassen werden.

Ohne eine optimistische Sinnsuche für die Zukunft wird aber auch das nicht reichen. „Gerade Progressive dürfen sich von den Rechten nicht in die Defensive drängen lassen, sondern müssen im Geist von Freiheit und Solidarität neue Visionen suchen oder alte und unvollendete Gerechtigkeitsversprechen neu entdecken, mit denen sich Menschen identifizieren“ (S. 264).

Wir verstehen das Buch von Matthias Quent als Ansporn für die anarchistische Diskussion und Einflussnahme. Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, wie wichtig ambitionierte und attraktive Gesellschaftsutopien sind. Sie brauchen Handlungsformen, die einen Vorgeschmack des besseren Lebens ins Hier und Jetzt holen. Zur Öffnung und Ausbau solcher Erfahrungsräume hat der Anarchismus einiges beizutragen. Fangen wir damit an!

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 2 / Januar 2021, Special: Die Corona-Krise und die Anarchie, S. 214-216)