Eine Sternstunde der Freiwirtschaft

Werner Onken: Von der Akkumulation zur Dezentralisierung der Wirtschaft, Vortrag auf dem Fairconomy-Webinar der Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO e.V.) am 21. Januar 2022

Veranstaltungsrezension von Markus Henning

Können die Fehlentwicklungen der Moderne überwunden werden, ohne ihre positiven Seiten über Bord zu werfen? Wie kann die Konzentration von Geld-, Boden- und Realkapital abgebaut und die Marktwirtschaft vom Kapitalismus befreit werden? Wäre auf dieser Grundlage eine „Zweite Moderne“ denkbar, die mit der Vision einer egalitären, herrschaftsfrei demokratischen und in die Umwelt eingepassten Gesellschaft ernst macht? Eskalierende soziale und ökologische Krisen stellen derartige Fragen immer unabweisbarer auf die Tagungsordnung.

Werner Onken (geb. 1953) hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht und die sozialökonomische Ideengeschichte der letzten 250 Jahre einer systematischen Gesamtschau unterworfen.

Schon zuvor hat er Vorhaben geschultert, unter deren Last andere wohl zusammengebrochen wären. Über vier Jahrzehnte redigierte Onken mit der Zeitschrift für Sozialökonomie die wissenschaftliche Stimme der Freiwirtschaft. Er organisierte die Fachtagungsreihe der Mündener Gespräche und baute das Archiv für Geld- und Bodenreform auf. Und er ist der wohl beste Kenner des Sozialreformers Silvio Gesell (1862-1930), dessen Gesammelte Werke in 18 Bänden er im Zeitraum von 1988 bis 2000 veröffentlichte.

Auch sein neuestes Forschungsprojekt beschäftigte Onken über ein ganzes Jahrzehnt hinweg. Die Niederschrift der Ergebnisse umfasst ca. 1.400 Seiten und wird voraussichtlich im März 2022 als dreibändige Buchedition im Münchener oekom Verlag erscheinen (Titel: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Von der Akkumulation und Konzentration in der Wirtschaft zu ihrer Dezentralisierung).

Eine Art Werkstattbericht und inhaltliche Vorausschau gab Werner Onken am 21. Januar 2022 in einem öffentlichen Online-Vortrag, organisiert von der Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO e.V.).

Den Zuhörenden eröffneten sich einzigartige Einblicke in das geistige Universum von ökonomischer Theorie und Wirtschaftssoziologie. Seit Beginn des Industriekapitalismus haben sich Generationen bedeutender Denker:innen darauf gerichtet, die Strukturen dieser Wirtschaftsform analytisch zu durchdringen und ihre destruktive Dynamik zukunftsfähig zu überwinden. Die Bandbreite der Lösungsmodelle – von den klassischen Anfängen bei Adam Smith (1723-1790) über alle Epochen der Theoriebildung hinweg bis zur Transformationsforschung unserer Tage – umfasst einen Facettenreichtum, eine Vielfalt und Ambivalenz, die Werner Onken auf eine Weise seziert, die sich jeder Vereinfachung und dogmatischen Erstarrung entgegenstellt.

Seine eigene Position wurzelt in der Freiwirtschaft, in der These also, dass die moderne industrielle Bürgergesellschaft von Anbeginn auf einem zweifach fehlerhaften Fundament aufgebaut war: Erstens auf einem Geld, das nicht nur als neutrales Tausch- und Kreditmedium fungiert, sondern auch als Mittel der Wertaufbewahrung, der Akkumulation von Kapital und des Aufbaus struktureller Herrschaft. Zweitens auf dem Privateigentum an Grund und Boden, das dieses nicht vermehrbare, allen Menschen als Lebensgrundlage gemeinschaftlich zustehende Naturgeschenk zur individuellen Handelsware, zum Kapitalgut und Spekulationsobjekt degradiert. Die Zukunft jenseits einer kapitalistisch verfälschten Marktwirtschaft soll dementsprechend durch die Einführung von Freiland und Freigeld eingeläutet werden: Grund und Boden werden vergesellschaftet und Nutzungsrechte nur noch im Pachtverfahren vergeben. Als systemische Ergänzung wird das allgemeine Tauschmittel durch eine im zeitlichen Ablauf fällige Gebühr unter Umlaufzwang gesetzt und so den nichthortbaren Waren gleichgestellt.

Ist das schon der Schlüssel zum Paradies? Werner Onken warnt vor Selbstgewissheit – und genau das verleiht seinem Ansatz vorwärtsweisende Kraft. So wichtig, grundlegend und „die Not wendend“ eine Geld- und Bodenreform ist, sie kann sich doch nicht selbst genügen. Ein breites Feld ergänzender Reformen muss hinzutreten, um der Komplexität gegenwärtiger Problemlagen gerecht werden zu können.

Hieraus leitet sich das spezifische Erkenntnisinteresse ab, mit dem Onken an Geschichte und Gegenwart der ökonomischen Schulen und Denkströmungen herantritt. Er prüft ihre Gehalte, arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus, sucht nach verbindenden Ideen, will Gesprächskanäle öffnen und Verständigungsbrücken bauen. Worum es ihm geht, und was ihm ein zutiefst persönliches Anliegen ist – hiervon kündete sein mündlicher Vortrag –, ist die Anschlussfähigkeit der Freiwirtschaft in den sozial-ökologischen Diskurs hinein.

Das zielt nicht nur auf die Außendarstellung, sondern auch auf die interne Verständigung der Geld- und Bodenreformer selbst. Viel zu viele Themen wurden bislang nur stiefmütterlich behandelt.

Da ist z.B. der wegweisende Einfluss des großen französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), der mit seinen libertären Gedanken weit in jene Ära von Sozialreformern hinüberragte, die zwischen 1880-1930 experimentalsozialistische Zukunftsbilder einer hierarchiefreien Gesellschaft mit egalitär breit gestreutem Produktionsmittel-Eigentum entwarfen. Nicht allein Theodor Hertzka (1846-1924), Franz Oppenheimer (1864-1943) oder Gustav Landauer (1870-1919) gehörten dieser Gedankenfamilie an. Auch Silvio Gesell, der Begründer der Freiwirtschaftslehre, stand auf den Schultern Proudhons.

Da sind z.B. die Vordenker einer dezentralisierten Wirtschaft nach „menschlichem Maß“, wie der Ordoliberale Wilhelm Röpke (1899-1966) und die Vertreter der „Small is beautiful“-Bewegung Leopold Kohr (1909-1994), Ernst Friedrich Schumacher (1911-1977) und Ivan Illich (1926-2002).

Und da sind z.B. die Überlegungen zum Geschlechterverhältnis und zur Zukunft der Arbeitswelt, über die Werner Onken in seinem realutopischen Ausblick auf die selbstbestimmte Tätigkeit in einer „Vorsorgenden Wirtschaft“ referierte.

Dies alles und noch viel mehr entfaltete sich in einem inspirierenden Panorama emanzipatorischer Gedankenbausteine. Diese Bausteine neu zusammenzusetzen und in zielführende Handlungskonzepte zu übertragen, ist die Aufgabe unserer Zeit.

Dabei wird das Buch von Werner Onken eine unentbehrliche Hilfsquelle sein. Wir wünschen ihm erfolgreiche Verbreitung und eine große Leserschaft.

Als Online-Publikation steht der gesamte Text bereits auf der Webseite von Werner Onken zum kostenlosen Download zur Verfügung.