Ein erfülltes Leben für alle!

Nicolas Walter: Betrifft: Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit. Mit einem biografischen Nachwort v. Natasha Walter. Herausgegeben, neu aus dem Englischen übersetzt, mit einem Geleitwort, Anmerkungen und einer kommentierten Anarchismus-Bibliografie versehen v. Jochen Schmück, Postdam: Libertad Verlag, 2018, ISBN 978-3-922226-28-4, 198 Seiten
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Rezension von Markus Henning

Im Rundbrief Nr. 18/4 hat Rudolf Mehl ein Buch von Markus Pühringer besprochen. Es trägt den programmatischen Titel: HERRSCHAFTSFREI LEBEN! Wie wir Menschen durch Herrschaft, Kapitalismus und Patriachat aus paradiesischen Zuständen vertrieben wurden … und wie wir wieder dahin zurückkehren können. In seiner anregenden Auseinandersetzung mit Pühringers Thesen weist Rudolf Mehl zurecht darauf hin, dass die Rückkehr zu einem System ohne Herrschaft eine noch nie dagewesene Herausforderung ist. Die Wege nach Utopia haben wir selbst zu gehen. Zuvor müssen wir sie aber finden. Spannende gesellschaftliche Diskussionen sind zu erwarten.

Die Abhandlung von Nicolas Walter (1934-2000) über die konstruktiven Seiten des Anarchismus bietet einen hilfreichen Blick zurück nach vorne: Schon 1963 war ein fatales Jahr für das politische Ansehen der britischen Regierungsinstitutionen. Einen von vielen politischen Skandalen hatten die „Spies for Peace“ (Spione für den Frieden) ausgelöst: In einer buchstäblichen Nacht- und Nebelaktion veröffentlichten sie im April 1963 geheime Regierungspläne zur Führung eines Atomkriegs. Die im Untergrund arbeitende Gruppe bestand aus acht jungen Menschen, alle schon langjährig in der britischen Friedensbewegung engagiert. Einer von ihnen war Nicolas Walter.

Als bekennender Anarchist war Walter Zeit seines Lebens vom Willen beseelt, die Macht des Staates herauszufordern. Nicht um Chaos zu stiften, wie es die Autoritären dem Anarchismus seit jeher unterstellen. Sondern um durch direkte Aktion und die Kraft des Wortes gedankliche Horizonte zu öffnen für die Überwindung von Herrschaft und Ausbeutung.

Der Potsdamer Libertad Verlag hat Walters Essay Betrifft: Anarchismus neu übersetzt herausgegeben. Im englischen Original wurde der Text erstmalig 1969 veröffentlicht. Er atmet die sozialrevolutionäre Aufbruchsstimmung seiner Zeit, wirkt aber auch heute noch unverbraucht und anregend. Mir scheint, dass liegt an der tief empfundenen Menschlichkeit, mit der Nicolas Walter die Grundstrukturen einer herrschaftslosen Sozialordnung diskutiert. Regierungsgeschäfte, Machtambitionen, Konkurrenz und wirtschaftliche Wachstumsraten sind falsche Ziele. Der einzige Zweck gesellschaftlichen Miteinanders besteht darin, jedem Menschen die Chance zu geben, selbstbestimmt und in freier Vereinigung mit anderen ein erfülltes Leben zu führen.

Herausgeber Jochen Schmück hat Walters Text eine kommentierte Anarchismus-Bibliografie zur Seite gestellt. Sie umfasst an die 250 Titel! Fürwahr ein Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit – und ein probates Gegengift gegen die Internationale der Autokraten und Rechtspopulisten.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: Rundbrief, Nr. 19/1 – April 2019, hrsg. v. den Christen für gerechte Wirtschaftsordnung und der Akademie für Solidarische Ökonomie, S. 11)