Erich Mühsam: Tagebücher. Band 15: 1924, hrsg. v. Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin: Verbrecher Verlag, 2019, ISBN 978-3-940426-91-8, 359 Seiten
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[Die Sach- und Personenregister aller 15 Bände sind inklusive Suchfunktion einsehbar unter www.muehsam-tagebuch.de]
Rezension von Markus Henning
Die Schrecken gestohlener Jahre und der Versuch, sie schreibend zu bannen. Der aufgerauhten Seele Distanz zum Unerträglichen schaffen. Der ekelhaften Wirklichkeit ein Stück Freiheit abtrotzen, um lebendig bleiben und später Zeugnis ablegen zu können. Dafür hat Erich Mühsam während seiner Festungshaft Tagebuch geführt.
Länger als fünf Jahre füllte er in seiner Zelle Seite um Seite: Politische Tendenzanalysen, psychologische Momentaufnahmen, poetische Blitzlichter, zornbebende Protokolle der Gefangenschaft in ihrem „alten widerlichen Gang“ (21.4.1924; S. 18). Über weite Strecken eine bedrückende Lektüre. Leichte Kost sollte das nie sein.
Auch die Einträge der letzten Monate liegen jetzt gedruckt vor (vom 15. April bis zur Haftentlassung am 20. Dezember 1924). Mit ihnen beendet der Berliner Verbrecher Verlag die Gesamtausgabe der überlieferten Tagebücher Erich Mühsams.
Als Mitinitiator der ersten Münchner Räterepublik war Mühsam im Mai 1919 von einem konterrevolutionären Standgericht zu 15 Jahren verurteilt worden. Zunächst in Ansbach festgesetzt, saß er schon seit Oktober 1920 in der Festung Niederschönenfeld ein. Ab November 1923 war sein weiteres Schicksal auf unheilvolle Weise verknüpft mit dem seiner faschistischen Todfeinde. Die NSDAP hatte einen Putschversuch in München unternommen. Seine Niederschlagung endete für Hitler und Gefolgsleute ebenfalls in Festungshaft. Wollte die Bayerische Regierung sie ohne Gesichtsverlust vorzeitig entlassen, ginge das nur über eine allgemeine politische Amnestie auch für die gefangenen Räterevolutionäre. Ein zarter Hoffnungsstrahl im täglichen Nervenkrieg. Selbst für Mühsam, der doch genau ahnte, was die Nazis bereithielten für ihn, „für den Juden und Revolutionär, den Anarchisten“ (11.9.1924; S. 253).
Gerade sein anarchistischer Lebensentwurf war für Mühsam nicht verhandelbar. Der Entschluss, sich keiner Autorität zu beugen und keiner Macht unterzuordnen, war existentieller Teil seiner persönlichen Integrität. Das isolierte ihn auch im Kreis seiner parteikommunistischen Mitgefangenen. Deren Rufmordkampagnen trafen ihn hart, ließen ihn aber nicht irrewerden. Mühsam behielt den ungetrübten Blick des politischen Außenseiters, beharrte auf libertärer Abgrenzung zur Moskauer Diktatur: „Man kann nur irgendeine Äußerung Bakunins über Autoritätsregierungen, provisorische Regierungen, Regierungen überhaupt nachlesen und man wird finden, dass das Treiben der Tscheka gegen linke Revolutionäre einfach die Konsequenz dessen ist, was die Bolschewiki unternahmen, als sie die Revolution in eigne Regie überführten. Sie haben sie getötet und töten infolgedessen auch die, die noch revolutionäre Ziele weiterverfolgen möchten“ (14.6.1924; S. 107).
Erstaunlich, wie klar Mühsam aus seiner Schlüssellochperspektive sah. Wie treffend er die historische Dynamik innerhalb und außerhalb der Festungsmauern erfasste. Etwa die Weimarer Republik: Ein Staat in der Dauerkrise, auf währungspolitischer Achterbahn Richtung Abgrund! „Im Übrigen ist das nur die Bestätigung, dass der von allen, auch den marxistischen Parteien als Hanswurst verschrieene Silvio Gesell vollständig recht hat, dass nämlich Festwährung mit Gold- oder sonst welcher ‚Deckung‘ überhaupt nicht möglich ist“ (29.4.1924; S. 29). Gesell, den Begründer der Freiwirtschaftslehre, zählte Mühsam zu den Wegbereitern menschlicher Gemeinschaft.
Das galt natürlich auch für Gustav Landauer, den feinsinnigen Anarchisten, der sein Räte-Engagement mit dem Leben bezahlte. Das Gedenken an den ermordeten Freund gehörte zu Mühsams dunkelsten Stunden. Je tiefer Verzweiflung und melancholische Todesahnung, desto lebenswichtiger wurden dem Dichter lyrische Produktion und Poesie. Ihnen verdanken wir ergreifende Bilder menschlicher Wärme. Dazu gehört die Festungsgeschichte der Schwalbennester. Zur Freude der Gefangenen von den Vögeln gebaut, von der Verwaltung mit fanatischem Eifer regelmäßig wieder zerstört. „Ich habe mich noch nie so mit der Kreatur verbunden gefühlt, wie mit diesen unglücklichen Tierchen, die so traurig dasitzen können, dass man allen ihren Schmerz im Tiefsten mitfühlt, und die doch niemals erfahren können, dass sie nur deswegen das bitterste Leid, das die Schöpfung kennt, ertragen müssen, weil die einzige Tiergattung, die die Verfolgung der eignen Art betreibt, bei ihren Qualmethoden nicht umhin kann, auch Geschöpfe andrer Art mitzuquälen“ (17.6.1924; S. 110 f.).
Erich Mühsams Tagebuch ist ein Zeugnis großer Liebe, allen voran zu seiner tapferen und Halt gebenden Frau Kreszentia, genannt Zenzl. „Welch unbeschreiblicher Reichtum ist diese Frau für mich! Wie sehne ich mich nach ihr!“ (4.9.1924; S. 245). Ihr widmet Herausgeber Conrad Piens das abschließende Nachwort (S. 345-357). Die Nazis ermordeten Erich Mühsam am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg. Zenzl floh über Prag nach Moskau. In der Sowjetunion saß sie 20 Jahre fest, davon 18 Jahre Gefängnis, Gulag und Verbannung. Erst 1955 konnte sie in die DDR ausreisen, bis zu ihrem Tod 1962 unermüdlich im Einsatz für den Nachlass ihres Mannes.
Auch Zenzls Leben, Leiden und Sterben sind eingeschrieben in die blutige Geschichte des Totalitarismus. Sie sind Mahnung und Ansporn zugleich: Der Sozialismus wird frei sein, oder er wird nicht sein!
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 1 / Juni 2020, S. 166-168)