Richard David Precht: SEI DU SELBST. Eine Geschichte der Philosophie. Band 3. Von der Philosophie nach Hegel bis zur Philosophie der Jahrhundertwende, München: Goldmann, 2019, 978-3-442-31402-7, 608 Seiten
Rezension von Markus Henning
Alle großen Fragen der Ökonomie sind in erster Linie philosophische Fragen. Über die Aufspaltung in akademische Fachdisziplinen geriet das vielfach in Vergessenheit, sehr zum Schaden ihrer Zukunftsorientierung. Einseitige Spezialisierung führt zu Wissensgrenzen.
Davon blieb die Freiwirtschaftsbewegung nicht unberührt. Auch sie muss erst wieder lernen, sich systematisch über Grundsätzliches zu verständigen: Über die Maßstäbe der Gerechtigkeit, über Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit, über das gute Leben.
In einer Archäologie sozialen Denkens gilt es, Verschüttetes freizuschaufeln. Da kann es hilfreich sein, einem erfahrenen Grabungsexperten bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Richard David Precht ist öffentlicher Intellektueller, er will politisch und gesellschaftlich wirken. Der neue Band seiner Philosophiegeschichte hält Rückschau auf das 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika.
Eingeläutet wurde es schon 1789 mit Beginn der Französischen Revolution. Plötzlich stand eine große Frage im philosophischen Raum, wurde zum kontrovers diskutierten Thema menschlicher Lebensausdeutung: Ist eine aufgeklärte, vernünftige Gesellschaft möglich, in der für jeden Menschen so gesorgt ist, dass er in abgesicherten Verhältnissen selbstbestimmt leben kann?
Hand in Hand mit dem heraufziehenden Kapitalismus, mit der Geburt eines neuen Maschinenzeitalters, einer neuen Lohnarbeits- und Leistungsgesellschaft bildete sich das Schema von rechts und links heraus. Restauration und Revolution, Kulturpessimismus und Fortschrittsglaube ordneten sich ideologischen Lagern zu.
Hoffnungsfroh und mit heute kaum mehr vorstellbarer Dynamik traten radikaler Liberalismus und sozialistisches Denken auf den Plan. Sie wurden konzeptionell erprobt, fächerten sich auf und trieben konkurrierende Strömungen hervor. Davon ist heute ein nur müder Widerhall geblieben.
In schöner, klarer und leicht verständlicher Sprache geht Precht zurück zu den lebendigen Anfängen. Er öffnet unseren Blick für die ursprüngliche Produktivkraft aller Freiheitsbestrebungen: Den Geist der Utopie, der die Menschen auch sinnlich ergreift, der auf unmittelbare Verwirklichung drängt, der alle Kategorien des Zwangs hinter sich lässt.
Auch die Freiwirtschaftslehre, von Silvio Gesell 1916 ausformuliert, wurzelt letztlich in diesem Geist des frühen 19. Jahrhunderts. Das erschließt sich bei aufmerksamer Lektüre des von Precht ausgebreiteten Materials. Drei sozialphilosophische Traditionslinien flossen bei Gesell zusammen.
1) Naturrecht: Aus ihm schmiedete der englische Frühsozialismus Waffen gegen die Grundherren. Das am meisten ausgereifte Konzept legte Thomas Spence (1750-1814) vor. Eine Art Blaupause für die Freiland-Reform, aber auch für heutige Debatten um ein ressourcengestütztes Grundeinkommen: „Da kein Mensch ohne den Ertrag von Grund und Boden leben kann, hat er auch ein natürliches Anrecht darauf […]. Jeder Engländer soll vierteljährlich ein Grundeinkommen erhalten, finanziert durch Steuern auf die Pachteinnahmen der Felder. Am besten wäre es, das Land vollständig in Gemeindeeigentum zu überführen und anschließend an Nutzergemeinschaften zu versteigern“ (S. 150 f.). Naturrechtlich konsequent forderte Spence für die Ausschüttung des Grundeinkommens Geschlechtergleichberechtigung. Das machte ihn zu einem wichtigen Vorkämpfer der Frauenrechte, in diesem Punkt inspiriert von der bedeutenden Feministin Mary Wollstonecraft (1759-1797).
2) Tauschsozialismus: Zu seinen wichtigsten Pionieren gehörten in England Robert Owen (1771-1858), in Frankreich Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Sie drängten auf wirtschaftliche Selbsthilfe, initiierten Arbeitsbörsen und Währungsexperimente, erstrebten eine ausbeutungsfreie Marktwirtschaft, setzten sich gleichermaßen vom Kapitalismus wie vom Kommunismus ab. Proudhons Vorarbeiten zu Eigentum, Zins und Zirkulation waren wegweisend. Sie ebneten das Terrain, auf dem Gesell eigenständig seine Freigeld-Reform entwerfen konnte: Die Einführung einer Währung, die durch periodischen Wertverlust unter Umlaufzwang gesetzt ist, deren zirkulierende Menge sich effektiv steuern lässt und die infolge dessen das durchschnittliche Zinsniveau gegen Null drückt.
3) Anarchismus: Philosophie individueller und kollektiver Selbstbestimmung, konsequente Ablehnung von Ausbeutung, Zwang, Herrschaft und Staat, voluntaristisches Aufbegehren gegen Utopie-Verbote und selbsternannte Geschichtspropheten! Systematisch ausformuliert wurde das erstmals vom Engländer William Godwin (1756-1836). Über die Abgrenzung vom autoritären Staatssozialismus wurde das zur eigenständigen sozialrevolutionären Bewegung. Hierfür stand vor allem Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876), anarchistischer Gegenspieler von Karl Marx (1818-1883) in der Ersten Internationale. Auf die Freiwirtschaft kam anarchistisches Denken wiederum über den ideengeschichtlichen Einfluss Proudhons, aber auch über die Ich-Philosophie Max Stirners (d.i. Johann Caspar Schmidt; 1806-1856). Seine gesellschaftspolitische Zielvorstellung benannte Gesell dementsprechend als Akratie (gr.: Nicht-Herrschaft), seine letzte größere Schrift aus dem Jahre 1927 trug den Titel: Der abgebaute Staat.
Vom Werk des russischen Anarchisten, Geographen und Evolutionsforschers Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) hatte Gesell allerdings nur unzureichend Kenntnis. Rückblickend ist das sehr zu bedauern. „Im Jahr 1902 bündelt Kropotkin seine vielen Essays und Überlegungen in dem Buch Mutual Aid (Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt). Seine Theorie, dass es in der Natur insgesamt mehr auf Zusammenhalt ankommt als auf einen Verdrängungskampf, ist ein ketzerischer Gedanke. Er widerspricht ganz entschieden der vorherrschenden Ideologie des späten 19. Jahrhunderts“ (S. 380). Diese damals vorherrschende Ideologie war der Sozialdarwinismus. Versatzstücke übernahm auch Gesell unhinterfragt in sein Konzept der Natürlichen Wirtschaftsordnung. Die Lektüre Kropotkins hätte ihn hellhörig machen können.
Wir haben Richard David Precht gegen den Strich gelesen. Gesell oder die Freiwirtschaft hat er mit noch keinem Wort erwähnt. Vielleicht ist es in Band 4 soweit. Gleichwohl hat sich schon jetzt gezeigt, dass Philosophiegeschichte ein Blick nach vorn sein kann. Auch im Sinne der Geld- und Bodenreform! Ein ideengeschichtlicher Rückbezug könnte ihren Diskurs wieder anschließen an die inspirierende Quelle utopischen Denkens.
Das könnte neu beleben. Und wenn es uns nur vor Augen führt, wie zeitbedingt der Kapitalismus ist, der uns heute oft so alternativlos erscheint!
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht im CGW-Rundbrief, Nr. 20/2 – Mai 2020, hrsg. v. den Christen für gerechte Wirtschaftsordnung, S. 18 f.)