Die Revolte als inhärentes Prinzip: Dada, München und der Anarchismus

Bernhard Rusch: DADA & München. Eine Art Romanze, 2., korrigierte Auflage, Altrip: Schrägverlag, 2022, Softcover, 250 Seiten, 30 Illustrationen, Lesezeichen mit Gebrauchsanweisung, 18,19 € (zzgl. 2,89 € Versandkosten). Buchbestellungen bitte per E-Mail an:

Rezension von Markus Henning

Wenn Nationalismus, Krieg und Unterdrückung die politische Tagesordnung bestimmen, wenn die Absurdität des Tatsächlichen der humanistischen Erhabenheit hohnlacht und wenn das Wort auf den Lippen ersterben will – dann gibt es auch in bildender Kunst, Literatur und Musik kein weiter wie bisher. Dann muss die Welt von Grund auf neu getauft werden. Dann gilt es, das Bestehende in seinen Ausdrucksformen zu demolieren, zu zersetzen und aus den Trümmern in kreativer Paradoxie Besseres zu erschaffen.

Das war der Anspruch von Dada. 1916 mitten im Ersten Weltkrieg entstanden, mischte die Dada-Bewegung als eine bald internationale Avantgarde in nur wenigen Jahren den repräsentativen Kulturbetrieb nachhaltig auf und revolutionierte die künstlerische Praxis. Bei aller Differenz der Programme und Positionen einte ihre Protagonist:innen ein ethisches Streben: Sie wollten zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Deswegen rannten sie gegen gängige Deutungshoheiten an und stellten die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst in Frage. Und das nicht über akademische Debatten, sondern durch aktives Eingreifen in die festgefahrene Ordnung: Bei kollektiven Auftritten und Inszenierungen, bei öffentlichen Provokationen und Skandalen, in der Produktion von Objekten und Texten, in eigenen Formen der Selbstdarstellung und einem dadaistischen Zeitschriftenwesen.

Nach seinem Ende hallte der Dadaismus noch lange in surrealistischen, situationistischen oder lettristischen Gruppen nach und inspirierte viele Strömungen der Happening- und Aktionskunst.

Seinem Selbstverständnis entsprechend kann dem Dadaismus im Grunde auch als Erfolg ausgelegt werden, dass sich die Kunstgeschichte bis heute schwer tut mit seiner kategorialen Einordnung, ja selbst mit seinen konkreten Wurzeln und Entstehungszusammenhängen. In neuer Perspektive ausgeleuchtet wird dieses Dunkel jetzt von Bernhard Rusch (geb. 1967).

Er ist dem Dadaismus schon seit langen Jahren auf der Spur: In profunder Beharrlichkeit des historisch Forschenden ebenso wie als publizistisch, lyrisch und zeichnerisch Schaffender. Das jüngste Ergebnis seiner Untersuchungen ist im Altriper Schrägverlag erschienen und trägt den Titel DADA & München. Eine Art Romanze.

Rusch lebt selbst in der Isarmetropole. In diesem Buch hält er Rückschau auf die in der Geschichtsschreibung bislang kaum reflektierte Bedeutung seiner Heimatstadt für die Ursprünge und die Entstehung von Dada.

Diese Bedeutung war in der Tat immens. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg behauptete sich München als Kulturmetropole von europäischer Geltung. Über Ländergrenzen hinweg wirkten seine Ausbildungsinstitute, Galerien, Theaterstätten und nicht zuletzt sein vitales Boheme-Milieu als Gravitationszentrum für Kunststudierende und -schaffende, für Literaten, Sonderlinge und Weltverbesserer aller Couleur. Genau damit aber wurde München gewissermaßen die lebensweltliche Sozialisationsinstanz für angehende Dadaist:innen. Hier vermittelten sich ihnen Anregungen und Erfahrungsschätze, hier knüpften sie Freundschaften an und tauchten in (sub-)kulturelle Beziehungsgeflechte ein, ohne die es später wohl kaum die Geburt von Dada-Gruppen in Zürich, Berlin und Köln gegeben hätte.

Durch das Aufeinanderbeziehen von urbaner Historie und biographischen Skizzen lässt Bernhard Rusch uns hautnah daran teilhaben. Dicht an den Sinnesempfindungen der Beteiligten durchleben auch wir ihre Schlüsselerlebnisse. Wir fühlen nach, wie künstlerisch-konzeptionelle Saiten zum Erklingen gebracht und politische Haltungen geformt wurden, die klar erkennbar in eine antiautoritäre Richtung tendierten. Ja, Rusch führt uns klar vor Augen, dass sich auch der für dadaistisches Engagement so grundlegende Bezug auf den Anarchismus zum Großteil Prägungen aus München verdankte.

Ein konkretes Experimentierfeld, auf dem sich diese Einflüsse in künstlerischer Praxis zu dem verdichteten, was schließlich Dada genannt wurde, eröffnete sich allerdings erst im Schweizer Exil. Dorthin war eine Handvoll Künstler:innen um den Schriftsteller Hugo Ball (1886-1927) geflohen, um der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem 1914 begonnenen Ersten Weltkrieg, zu entgehen. Dass Ball am 5. Februar 1916 in Zürich das Cabaret Voltaire ins Leben rief, gilt gemeinhin als Gründungsakt Dadas. Als Vorbild diente die Münchner Künstlerklause Simplicissimus mit ihrer offenen Bühne für Literatur, Kunst und Musik. Auch das tägliche Programm im Cabaret Voltaire war für Ball eigentlich kein Neuanfang. Es war die Vollendung eines biographischen Kapitels, das er schon vier Jahre zuvor mit dem Antritt seiner Dramaturgen-Stelle bei den Münchner Kammerspielen begonnen hatte. Seine dort entwickelten Theaterpläne – vor allem die Idee des Gesamtkunstwerks, also der Erweiterung des Bühnenspiels um Ausdrucksmittel wie Kostüm, Maskerade, Tanz, Lautgedicht, Zufall, Collage und Montage – wurden jetzt zu wichtigen Inspirationsquellen: „Insgesamt entstand Dada, als man von der reinen Präsentation literarischer und musikalischer Stücke im Cabaret Voltaire dazu überging, die Auftritte mit performativen Elementen anzureichern“ (S. 158).

Abb. auf S. 87: Hugo Ball (1886-1927); ©: Bernhard Rusch

Zur ersten dadaistischen Kerntruppe in Zürich gehörten beispielsweise Hans Arp (1886-1966), Emmy Hennings (1885-1948), Richard Huelsenbeck (1892-1974), Marietta di Monaco (d.i. Maria Kirndörfer; 1893-1981), Marcel Słodki (1892-1943), Sophie Taeuber (1889-1943) oder Tristan Tzara (1896-1963). Die meisten von ihnen hatten ebenfalls prägende Jahre in München verbracht und schon vor der Emigration in kreativem Kontakt mit Ball gestanden. Einer der wichtigen Impulsgeber aus Hugo Balls Münchner Zeit war außerdem der Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker Wassily Kandinsky (1866-1944). Diesen zitierte Ball, als er sich 1917 in aller Öffentlichkeit gegen die ideologische Gleichstellung von Herrschaftsfreiheit mit Chaos, Willkür, Gewalt aussprach und erstmalig die anarchistische Ausrichtung Dadas proklamierte: „Die Anarchie ist aber Planmäßigkeit und Ordnung, welche nicht durch eine äußere und schließlich versagende Gewalt hergestellt, sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen werden“ (zit. in: S. 166).

Trotz aller Radikalität lief der libertäre Ansatz von Dada-Zürich bis dahin doch eher auf dem Gleis ästhetisch-künstlerischer Revolte. Eine ausgesprochen politische Dimension mit aufsehenerregenden Kundgebungen und antimilitaristischen Protesten nahm das Ganze ab 1917/18 in Berlin an. Retrospektiven konzentrieren sich im Allgemeinen auf Persönlichkeiten wie Johannes Baader (1875-1955), George Grosz (1893-1959), Raoul Hausmann (1886-1971), John Heartfield (d.i. Helmut Herzfeld; 1891-1968), Hannah Höch (1889-1978) oder Walter Mehring (1896-1981).

Weniger im Fokus stand bislang, dass auch die Berliner Dada-Sektion ihre Dynamik ganz wesentlich aus Münchner Wurzeln speiste und welch entscheidende Rolle Franz Jung (1888-1963) dabei spielte. Bevor er nach Berlin gekommen war, hatte Jung während der Jahre 1911-1913 in München gelebt und erste Erfolge als expressionistischer Autor verzeichnet. Vor allem aber war er dort als Aktivist der Gruppe Tat um Erich Mühsam (1878-1934) sowie als Schüler des libertären Psychoanalytikers Otto Gross (1877-1920) anarchistisch politisiert worden. Und ohne die Mitarbeit von Münchner Bekannten wie Oskar Maria Graf (1894-1967) oder Georg Schrimpf (1889-1938) wäre es Jung wohl kaum möglich gewesen, ab 1915 eine libertäre Zeitschrift wie die Freie Straße herauszugeben.

Den Dada-Gedanken hatte Richard Huelsenbeck von Zürich nach Berlin überbracht. Franz Jung nahm die Botschaft auf und brachte sie in Stellung gegen Staat, Kapital, Kirche und Krieg. Ende 1917 initiierte Jung den Berliner Club Dada in Anlehnung an die Clubs der Großen Französischen Revolution. „Er betrachtete Dada als Ausfluss des ‚Trieb[s] zur direkten Aktion, mit der eine Revolution beginnen soll‘ […]“ (S. 170).

Als letztere im November 1918 tatsächlich begann, schien die Zeit endgültig reif, die künstlerischen Ergebnisse Dadas gesellschaftspolitisch wirkmächtig zu machen. Etliche Dadaist:innen zog es zurück nach München.

Und als dort am 7. April 1919 unter aktiver Anteilnahme von Anarchisten sogar die Räterepublik Baiern ausgerufen und ein Aktionsausschuss revolutionärer Künstler installiert wurde, eilte von Zürich aus umgehend der Maler und Schriftsteller Hans Richter (1888-1976) herbei. Auch nachdem die Kommunisten am 13. April 1919 die Macht übernommen hatten, versuchte sich Richter gemeinsam mit Geistesverwandten als dadaistischer Aufbauhelfer neuer Gemeinschaft.

Die Niederschlagung der Räterepublik am 1. Mai 1919 und das sich anschließende konterrevolutionär-präfaschistische Blutbad leiteten die Entwicklung Bayerns zur reaktionären „Ordnungszelle“ ein. Trotz aller Ernüchterung blieb die Dadaist:innen-Dichte in München für einige Monate noch vergleichsweise hoch, so dass sie auf Suchende weiterhin anregend wirkte. Das war der Fall bei Max Ernst (1891-1976) und Johannes Theodor Baargeld (d.i. Alfred Gruenwald; 1892-1927), die nach einem München-Besuch im September 1919 als begeisterte Dadaisten nach Köln zurückkehrten und dort die Gruppe D gründeten. Interessanterweise umfasste ihre erste Dada-Ausstellung im November 1919 auch sieben Arbeiten des Malers und Bildhauers Franz Wilhelm Seiwert (1894-1933). Zu dessen engsten Freunden gehörte der Münchner Räterevolutionär Ret Marut (d.i. wahrscheinlich Otto Feige; 1882-1969), Herausgeber der individualanarchistischen Zeitschrift Der Ziegelbrenner und später unter dem Namen B. Traven weltberühmter Schriftsteller in Mexiko. So schloss sich auch in Köln der Kreis von München über Dada zum Anarchismus.

Dies alles und noch viel, viel mehr über die Vorgeschichte, Gründungsphase und Einübung Dadas erfahren wir von Bernhard Rusch. Der sympathisch eingängige und tiefenentspannte Schreibstil, mit dem er uns durch eine wahre Flut historischer Fakten und biographischer Details navigiert, zeugt von der Souveränität tiefer Sachkenntnis.

Vollends hineingezogen in seine unglaublich weitverzweigten Rechercheergebnisse werden wir durch die insgesamt 30 Illustrationen, die Rusch nach einer zufällig gefundenen Technik gestaltet und dem Buch in thematischer Abfolge beigegeben hat. Ausgeführt hat er die einzelnen Zeichnungen mit Filzstift auf einer Folie, worauf er sie mit Papieren hinterlegte und abfotografierte. Angewandt hat er damit eine Methode, mit der schon frühe Dadaisten die Verunsicherung der Kunst durch das Aufkommen von Film und Fotografie gekontert hatten: Sie machten kurzerhand die Reproduktion zum Original.

Ohne Frage: DADA & München. Eine Art Romanze ist ein Gesamtkunstwerk von libertärem Reiz. Wir wünschen Bernhard Rusch mit diesem prachtvoll gestalteten Buch viel Erfolg.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 7 / Juli 2023, S. 290-295)