Uwe Timm: Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit. Biografie eines unbequemen Libertären, Berlin: Oppo-Verlag, 2007, ISBN 978-3-926880-17-8, 208 Seiten
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Rezension von Markus Henning
Uwe Timm (1932-2014) war zweifellos einer der profiliertesten Vertreter des zeitgenössischen Individualanarchismus im deutschen Sprachraum. In seinem 2007 im Berliner Oppo-Verlag erschienenen Buch Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit legte er Zeugnis ab. Autobiografisches Zeugnis eines radikal freiheitlichen Lebensentwurfes, in dem zutiefst persönliche Einblicke in deutsche Zeit- und libertäre Bewegungsgeschichte niedergelegt sind. Aus der Perspektive des aktiv Miterlebten münden diese in eine politische Bilanz des bundesrepublikanischen Nachkriegsanarchismus, deren Kenntnisnahme selbst für diejenigen interessant sein dürfte, die bereits einschlägige Bekanntschaft mit dem umfangreichen publizistischen Schaffen Uwe Timms gemacht haben.
Aber auch als erster Einstieg in Vita und Gedankenwelt seines Verfassers ist dieses Buch durchaus zu empfehlen. Nicht nur, dass es seine literarischen Selbstauskünfte vergangener Jahre ergänzt und zum anrührenden Gesamtbild eines unbeugsamen und alles andere als „bequemen“ Werdeganges abrundet.[1] Darüber hinaus führt die Schrift auf eine gut lesbare, kompetente und umfassende Art in Lebensgefühl und Weltsicht des individualistischen Anarchismus ein.
Selbst ihr methodischer Aufbau und die formale Gliederung des Stoffes sind dieser Tradition verpflichtet. In ihren Grundzügen folgen sie John Henry Mackays Abrechnung, aus deren programmatischer Einleitung Uwe Timm Statt eines Vorwortes zitiert (S. 9 f.). Eine Anlehnung mit direkt biografischem Bezug: Mackay (1864-1933) hatte seinen Abrechnung betitelten Lebensrückblick 1932 in Berlin veröffentlicht – in demselben Jahr, in welchem Uwe Timm in Hamburg geboren wird.
Letzterer wächst im nationalsozialistischen Deutschland auf, erlebt und erleidet die totalitären Anmaßungen einer skrupellosen Staatsgewalt, den massiven Konformitätsdruck regimegelenkter Erziehungsinstanzen und wird von den existentiellen Schrecken des Krieges traumatisiert. „Wir waren die Generation der Kellerkinder, Kinder, die das Spielen verlernten, dafür im ‚Jungvolk‘ in den Geländespielen auf einen Staat eingeübt wurden, der eine heranwachsende Jugend für den Arbeitsdienst, für die deutsche Wehrmacht brauchte“ (S. 27).
Im Unterschied zu vielen Altersgenossen wird Uwe Timm allerdings auch schon früh mit anderen Wertsetzungen aktiv konfrontiert. Bei aller zur Gebote stehenden Vorsicht vermitteln sich ihm im relativ geschützten Raum familiärer und verwandtschaftlicher Privatheit deutlich spürbar Skepsis, Ablehnung und Kritik gegenüber der NS-Diktatur. Anfänglich bringt das die kindliche Psyche durchaus noch in Loyalitätskonflikte, wirkt langfristig aber der brachialen Indoktrinierung durch Schule, gleichgeschaltete Medien und „Staatsjugend“ untergründig entgegen, schärft den Blick und erweitert das Urteilsvermögen. Eine mentale Disposition, die den Heranwachsenden innerlich mehr und mehr von der enthusiastischen Jubel- und Siegesstimmung abrücken lässt, wie sie in der nationalsozialistisch strukturierten Öffentlichkeit zelebriert werden.
Das erste Kapitel (S. 13-43), in dem Timm diesen emotional vielschichtigen Entwicklungsgang anhand der ihn damals prägenden Erlebnisse differenziert und anschaulich nachzeichnet, gehört – wie ich meine – zu den stärksten und für heutige Leser aufschlussreichsten Passagen seines Buches. Eindrucksvoll beschreibt er beispielsweise, wie ihm schon früh die Unterscheidung von „lauten“ und „leisen“ Menschen zum Sinnbild eines gesellschaftlichen Klimas allgegenwärtiger Kontrolle und gegenseitiger Überwachung wird. Als „erste Lebenserfahrung“ wird sie ihm vermittelt durch das couragierte Verhalten seiner Mutter, die ab 1940 die Versicherungsagentur ihres zum Kriegsdienst eingezogenen Mannes übernommen hat und sich von ihrem Sohn beim Kassieren der Beiträge begleiten lässt. „Gedanklich teilte ich die Kunden meiner Mutter in zwei Gruppen ein: In jene, die sich mit ihr im Flüsterton unterhielten, während Türen und Fenster geschlossen blieben und keine anderen Menschen in der Nähe waren; und in solche, die laut redeten, sich sichtlich über jede Siegesnachricht im Wehrmachtsbericht freuten und bei keiner Begrüßung dieses ‚Heil Hitler‘ vergaßen. Nur von meiner Mutter hörte ich nie ein ‚Heil Hitler‘, sie verstand sich, was ich schnell herausfand, am besten mit den ‚Flüsterleuten‘“ (S. 14). Dergestalt sensibilisiert gewinnt er einen Blick für die Furcht vieler Erwachsener, von den eigenen Kindern denunziert zu werden, und fasst Mitleid mit russischen Kriegsgefangenen. Und schon lange bevor der von Nazi-Deutschland entfesselte Krieg in Gestalt alliierter Flächenbombardements mit verheerender Gewalt auf seine hanseatische Heimatstadt zurückzuschlagen beginnt, erlebt er ganz unmittelbar den Schmerz und die Verzweiflung von Menschen, die ihre gefallenen Verwandten beweinen. Timms bewusste Kriegsgegnerschaft nimmt hier ihren Anfang, macht ihn in seiner kindlichen Naivität zunächst aber selbst zum Opfer der staatlichen Willkür. Ausgerechnet ein Schulungsaufsatz – Lesen ist von klein auf seine große Leidenschaft, Deutsch sein Lieblingsfach – bringt ihn zum Jahreswechsel 1944/45 vor ein Tribunal seiner HJ-Führer. Er hat es an der eingeforderten Bekundung begeisterten Durchhaltewillens fehlen lassen und wird als „Defätist und erbärmliches Würstchen“ brutal zusammengebrüllt. Einzig sein niedriges Alter und wohl auch die Fürsprache eines Fähnleinführers aus der Nachbarschaft bewahren ihn vor Schlimmerem. Zutiefst schockiert und verunsichert lassen ihn Furcht und Misstrauen bis zum „Ende des braunen Spuks“ nicht mehr los.
Zu lösen beginnt sich dieser Druck erst, als das Ende des Krieges und mit ihm der Untergang der nationalsozialistischen Potentaten zur Gewissheit wird. Die ersten Friedenswochen in einem Zeltlager der Besatzungsmacht in der Nähe Hamburgs erlebt Uwe Timm daher als seelische Befreiung, die ihn für den täglichen „Re-Education“-Unterricht in besonderem Maße empfänglich macht. Tief prägt sich ihm der politische Gehalt der Ausführungen ein, mit denen der britische Polit-Offizier den in „BDM“ und „Jungvolk“ sozialisierten Jugendlichen die Grundbegriffe eines freiheitlichen Demokratieverständnisses zu vermitteln sucht: „Diese Lektionen mögen bei mir auf Dauer nachgewirkt und mit dazu beigetragen haben, dass ich in späteren Jahren zu der Überzeugung gelangte: Welche Regierung auch herrscht, ich werde hellwach sein, werde mich stets widersetzen, wenn Menschen für sogenannte ‚große Ziele‘ gebraucht oder vielmehr missbraucht werden. Niemand soll mir vorschreiben, was ich zu denken habe, wie ich zu leben habe, ebenso lasse ich auch anderen Menschen ihre Freiheit, so zu sein, wie sie es möchten“ (S. 44).
Die bitteren Alltagserfahrungen von Hunger, Kälte und Wohnungsnot im wirtschaftlichen Elend der unmittelbaren Nachkriegszeit bestärken Timm in seiner obrigkeitskritischen Haltung. Angesichts einer verzweifelten Versorgungssituation stellen sich Militärregierung und behördliche Instanzen für die Bevölkerungsmehrheit keineswegs als ökonomische Hilfe, sondern eher als Hemmnis, mitunter als Gefährdungspotential dar. Faktisch wird das persönliche Überleben in weiten Bereichen nur dadurch gewährleistet, dass die staatlichen Kontrollgesetze auf dem Wege direkter Eigeninitiative, gegenseitiger Hilfe und schattenwirtschaftlicher Austauschstrukturen von der gesellschaftlichen Basis her unterlaufen werden. Auch die sich anschließende Aufbau- und Rekonstruktionsperiode in der neu gegründeten Bundesrepublik erlebt Timm als „[…] eine Zeit, in der eigene Aktivität gefordert war und sich vor allem auch auszahlte. Man brachte sich ein, lernte zu leben und zu arbeiten, und das ohne staatliche Fürsorge. […] Das ‚Wirtschaftswunder‘, das nun folgte, war nicht zuletzt eine Frucht freiheitlicher Selbstorganisation der Wirtschaft.“ (S. 64 u. S. 80)
Als unmittelbar Beteiligter werden Timms Selbstverständnis und sein Bild von Wirtschaft und Gesellschaft hiervon aufs Nachhaltigste geprägt. Schon als Jugendlicher ist er gezwungen, ökonomisch auf eigenen Füßen zu stehen und aktiv Verantwortung für Andere wahrzunehmen: Seine Mutter bricht plötzlich jeden Kontakt zur Familie ihres Mannes ab, verlässt nach dessen Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft mit ihren drei Söhnen das gemeinsame Haus und lässt sich 1951 unter Verzicht auf sämtliche Unterhaltsleistungen scheiden. In der Folge sieht sich ihr ältester Sohn Uwe nunmehr für etliche Jahre in die Rolle des Familienernährers gestellt. Unglaublich hartgesotten und willensstark meistert er diese Aufgabe. Er entwickelt seine Fähigkeiten und Talente, findet aus eigener Kraft einen Weg aus der Perspektivlosigkeit, indem er neben seiner 1947 begonnen Lehre als Maschinenbauer auch eine Fortbildung zum Technischen Kaufmann erfolgreich abschließt.
Oft am Rande seiner körperlichen Kräfte tragen ihn Energie, Lebensfreude und ein neues Selbstvertrauen, das er aus seinem Engagement in der „Jugendbewegung jener Zeit“ (S. 62) sowie aus politischen Kontakten zu Antimilitaristen, Freiwirtschaftlern und Anarchisten schöpft. Durch harte Anstrengung baut Timm sich ein beruflich gesichertes Dasein in Würde und Unabhängigkeit auf. Zugleich lehnt er es aber entschieden ab, hierüber die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit zu verdrängen. „Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur – hierzu einen Beitrag zu leisten, das wurde mein Lebensziel“ (S. 73).
Angezogen vom humanistisch-weltlichen Erziehungsideal der Freidenker-Bewegung stößt er zum „Freigeistigen Kreis“ in Ahrensburg, wo er bereits Ende der 1940er Jahre Kurse für Heranwachsende veranstaltet und Jugendweihen organisiert.
Sozialpolitisch findet Timm ein anfängliches Betätigungsfeld bei der Hamburger „Genossenschaftsjugend“, über die er mit Schriften Robert Owens (1771-1858) vertraut wird, dessen föderativ-sozialistische Zielsetzungen ihn beeindrucken. Hier bringt er sich als Gruppenleiter ein und macht in der Redaktion der Genossenschaftlichen Jugendbriefe seine ersten journalistischen Erfahrungen. Noch in den 1950er Jahren scheinen ihm genossenschaftliche Ansätze auch in der Bundesrepublik einen erfolgversprechenden Weg zur sozialen Gerechtigkeit weisen zu können. Eine Hoffnung, die in der Realität marktwirtschaftlicher Entwicklung keine Entsprechung findet: „Der Funktionärsgeist brach den Konsumgenossenschaften den Hals, sie waren nicht wettbewerbsfähig“ (S. 140).
In Kontakt mit der Freiwirtschaftsbewegung kommt Uwe Timm durch Hermann Prüss (1882-1977), einem entschiedenen Nazi-Gegner, der ihm kurz nach Kriegsende Die natürliche Wirtschaftsordnung von Silvio Gesell (1862-1930) und Bücher von Werner Zimmermann (1893-1982) schenkt. Den Schweizer Lebensreformer Zimmermann lernt Timm wenig später auch persönlich kennen, erlebt dessen Vorträge in Hamburg, die er mit ebensolcher Wissbegier besucht wie die Kurse des Freiwirts Hans Schumann (1902-1994). In Ideenlehre und Reformvorschlägen der Freiwirtschaft findet Uwe Timm zwei Problemfelder intensiv behandelt, deren volkswirtschaftliche Bedeutung sich seiner Wahrnehmung bereits mit der Währungsreform 1948 aufgedrängt hat: Das Eigentum am unvermehrbaren Naturgut Grund und Boden, sowie die Geld- und Währungsfrage – Themen, die ihn auch in seinem späteren Leben nie mehr loslassen werden und für freiwirtschaftliches Denken einnehmen. Den libertär-staatsverneinenden Grundgehalt von Gesells Vorstellungen sieht Uwe Timm in der zeitgenössischen Freiwirtschaftsbewegung allerdings an den Rand gedrängt und weitgehend negiert. Nicht wenige ihrer Protagonisten versuchen sich aus fragwürdigem Opportunitätsdenken heraus mit politischen Gruppierungen oder sogar mit Parteien zu arrangieren, deren Programme in keiner Weise mit Gesells Beteiligung an der Münchener Räterepublik (1919) oder dem Inhalt seines Buches Der abgebaute Staat (1927) kompatibel sind.
Wie unkritischer Staatsgläubigkeit effektiv begegnet werden kann, ist in Timms Selbstverständnis jedoch längst zu einer entscheidenden Frage geworden. Konsequentere Antworten bietet der Anarchismus, dessen unterschiedliche Strömungen sich seit jeher die Befreiung der Gesellschaft vom Staat und von seinen Herrschaftsinstitutionen auf die Fahnen geschrieben haben. Hier scheint Timm noch am ehesten eine dauerhafte politische Heimat finden zu können. Über einen Freund bei der „Genossenschaftsjugend“ kommt er in persönliche Verbindung zu einer Hamburger Anarchisten-Gruppe, in deren gut besuchten Versammlungsabenden, Diskussionen und Vortragsveranstaltungen er mit der libertären Gedankenwelt vertraut wird. Zu ihren damaligen Aktivisten gehört Otto Reimers (1902-1984), dessen gut sortierte Bibliothek für den elektrisierten Timm zur Fundgrube wird: „Auch der Frau von Reimers war das nur recht, denn Bücher sollten ja gelesen werden, und zudem kam ich so an die Klassiker des Anarchismus heran: Rocker, Kropotkin, Bakunin, Mühsam, Mackay, Landauer usw. Eine eigene Bibliothek musste ich mir ja erst mühselig aufbauen“ (S. 58 f.). Aktiv sucht er das Gespräch mit älteren Anarchisten, die Nazizeit und Krieg überlebt haben und sich sichtlich über das Interesse des jungen Genossen freuen. Geistig bereichernde Bekanntschaften macht er beispielsweise mit Rudolf Oestreich (1878-1963) in Berlin oder mit Willi Huppertz (1904-1978) in Mühlheim, der ihm später auch Kontakte zur anarchistischen Bewegung in Holland vermittelt. Intensiv studiert Timm Die Freie Gesellschaft. Monatsschrift für Gesellschaftskritik und freiheitlichen Sozialismus, eines der wichtigsten Presseorgane des deutschen Nachkriegsanarchismus, in dem von 1949 bis 1953 führende Theoretiker wie Rudolf Rocker (1873-1958), Helmut Rüdiger (1903-1966) oder Augustin Souchy (1892-1984) aktuelle Beiträge veröffentlichen. Deren Positionen lernt Uwe Timm kennen und schätzen, meldet sich auch bald selbst in libertären Zeitschriften wie Information und Befreiung publizistisch zu Wort.
Bei aller Sympathie kann er sich auf Dauer jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass es der anarchistischen Bewegung seiner Zeit an Überzeugungskraft mangelt, ohne die eine größere Öffentlichkeit nicht erreicht, geschweige denn begeistert werden kann. Zu sehr scheint sie ihm in rückwärtsgewandten Richtungskämpfen ideologisch verfangen. Gangbare Wege, die auf die Bedürfnisse der Zeit zugeschnitten sind und über ein schlichtes Anknüpfen an die vor 1933 verfochtenen Konzeptionen hinausgehen, sucht er lange Zeit vergeblich: „[…] mir schien, dass sie nicht die Voraussetzungen besaß, um einer freiheitlich verfassten Gesellschaftsordnung auch nur einen Schritt näher zu kommen“ (S. 87).
Wiedereinführung der Wehrpflicht, atomare Aufrüstung, Vorbereitung von Notstandsgesetzen – zu diesen politisch heiß diskutierten Themen der Nachkriegsjahre engagiert sich Uwe Timm daher verstärkt auch in der außerparlamentarischen Protestbewegung, die sich weitgehend unabhängig vom anarchistischen Diskurs zu konstituieren beginnt. Er wird Mitglied in der „Internationale der Kriegsdienstgegner“ (IDK) und beteiligt sich bis in die 1960er Jahre hinein organisatorisch an den Hamburger Ostermärschen.
Über die Lektüre eines Zeitungsartikels hat Timm zwischenzeitlich aber auch Kenntnis von Kurt Zube (1905-1991) genommen. Dessen individualanarchistische Positionen heben sich in seinen Augen zukunftsweisend von der fortwährenden Verzettelung ab, die er bei den zeitgenössischen Libertären als unproduktive Energieverschwendung erlebt: „Im deutschen Sprachgebiet war es in den fünfziger Jahren nur Kurt Zube, der sich nicht mit idealistischen, utopisierenden Träumereien und Philosophierereien begnügte, sondern sich mit konkreten Strategien der Emanzipation von jeglicher Herrschaft befasste […]“ (S. 98). Für Timm ist das Grund genug, sich intensiv mit dem Individualanarchismus zu beschäftigen, wie Zube ihn in Anknüpfung an Autoren wie Max Stirner (1806-1856), John Henry Mackay (1864-1933) und Benjamin R. Tucker (1854-1939) vertritt. Diese Auseinandersetzung wird zur entscheidenden Weichenstellung für Timms weitere politische Biografie. Zubes Konzepte überzeugen ihn und er sucht die Zusammenarbeit. Diese mündet schließlich 1974 in die gemeinsame Gründung der „Mackay Gesellschaft“, als deren Treuhänder Uwe Timm fortan in führender Funktion tätig ist.
Die Positionen, welche die „Mackay Gesellschaft“ über Jahrzehnte hinweg in ihren Publikationen vertritt, werden in der zweiten Hälfte des hier zu besprechenden Buches inhaltlich ausgebreitet. Besonders in den beiden Kapiteln Individualistischer Anarchismus und Etatismus – eine Abgrenzung (S. 107-124) und Wirtschaft und Gesellschaft (S. 124-127) gelingt Uwe Timm auf knappem Raum eine argumentativ schlüssige Gesamtschau. In Hinblick auf seine wirtschaftstheoretischen Implikationen lässt sich Timms Gedankengang stark verkürzt in etwa so zusammenfassen:
Als libertäres Gegenmodell zum Zwangscharakter staatlicher Vergesellschaftung wird das Konzept vielfältiger Rechts- und Sozialgemeinschaften vorgestellt, zu denen sich die Individuen ihren jeweiligen Interessen gemäß freiwillig und widerruflich zusammenschließen. Diese auf Stirners „Verein der Egoisten“ zurückgehende Idee beinhaltet konsequenterweise auch die freie Wahlmöglichkeit der Einzelnen, sich jederzeit für eine ihnen gemäße Form ökonomischer Selbstorganisation entscheiden zu können und den ihnen gemäßen Grad von Eigenverantwortlichkeit im Unternehmen – wie im Sozialgefüge insgesamt – wahrzunehmen. Hieraus ergibt sich für Timm die Forderung nach unumschränkter Vertragsfreiheit sowie nach Schutz des Eigentums, solange es nicht durch Raub, Wucher, Zins und Privilegien entstanden ist. Weitestgehende Pluralität der unterschiedlichsten Wirtschaftsformen und ihre selbstregulierte Vernetzung in Freiheit und Gegenseitigkeit, mithin markwirtschaftliche Strukturen stellen sich vor diesem Hintergrund als „der Schlüssel zur Anarchie“ (S. 125) dar – allerdings nur dann, wenn jede staatliche Reglementierung und alle staatlich sanktionierten Monopole, insbesondere das Geld- und Steuermonopol, aus dem Weg geräumt sind und allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Naturgut Grund und Boden gewährleistet ist. „Anarchisten, die eine herrschaftslose Gesellschaft anstreben, sind für alle Alternativen offen, um sich ihrem Ideal zu nähern. Und so werden sie den Menschen die Freiheit der Entscheidung lassen, in einem selbstverwalteten oder in einem privaten Betrieb zu arbeiten. […] Doch benötigen [auch] die selbstverwalteten Betriebe die Marktwirtschaft, weil sie zum einen nicht alles selbst produzieren können und ihnen zum anderen die Konkurrenz (Wettbewerb) untereinander und mit anderen Unternehmen nicht erspart bleibt“ (S. 177).
Ausführlich und streitbar widmet Timm sich der Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen des alten und des neueren Anarchismus, die in der dogmatischen Ablehnung marktwirtschaftlicher Konkurrenz ihre Zukunftsprojektionen einseitig auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Etablierung kollektivistischer Wirtschaftsmodelle verkürzen. Dabei rechnet er mit den marxistischen Versatzstücken des aus Studentenrevolte und APO hervorgegangenen „Neo-Anarchismus“ ebenso eloquent ab, wie mit dem mehr oder weniger versteckten Etatismus vieler Globalisierungskritiker.[2]
Nicht zu unrecht konstatiert Timm beim Großteil der zeitgenössischen Libertären die Tendenz, sich „in anarchistische Schmollwinkel zurückzuziehen“ (S. 118) und ihr Engagement in destruktiver Manier auf abstrakte Forderungen an Politik und Wirtschaft zu beschränken. Um den Etatisten nicht vollends das Feld zu überlassen, plädiert er stattdessen für einen kämpferischen Pragmatismus, der versucht, libertäre Denkanstöße im Hier und Jetzt zu geben, ohne das grundsätzliche Ziel einer befreiten Gesellschaft analytisch aus den Augen zu lassen.
Mit seinen Überlegungen zur sozialpolitischen Debatte um ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ verdeutlicht Timm diesen Ansatz an einem aktuellen, auch in anarchistischen und freiwirtschaftlichen Medien kontrovers diskutierten Beispiel. In seinen Augen kann es unter den Verhältnissen eines „noch herrschenden Etatismus“ durchaus sinnvoll sein, sich für eine zweckgebundene Erhebung von Zwangsabgaben einzusetzen, um den Freiheitsspielraum der Bürger faktisch auszuweiten. Aus individualanarchistischer Perspektive darf hierbei aber nicht stehen geblieben werden: „Nun beruhen auch diese Vorschläge natürlich auf der Hinnahme staatlicher Ordnungssysteme einschließlich der Besteuerung, bei der es sich letztlich immer um eine Form von ‚Diebstahl‘ handelt. Freiheitliche Alternativen gehen eher in Richtung von Fonds, in denen alle einzahlen können, die für Menschen in Not etwas Gutes tun wollen – im Sinne einer ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘“ (S. 119).
Auch in seinem abschließenden Plädoyer für eine zeitgemäße libertäre Offensive (S. 173-187) fordert Uwe Timm dazu auf, nicht länger in Denkmustern der Vergangenheit zu verharren. Vielmehr gelte es, aktuelle soziologische und ökonomische Veränderungen analytisch vorurteilsfrei aufzuarbeiten, um so die Chancen wahrzunehmen, welche die Gegenwart einer libertären Entwicklung bietet. Ausgehend von der einfachen Tatsache, dass die Menschen in ihren Emotionen, Neigungen, Talenten und damit auch in ihren Vorstellungen vom „guten Leben“ unterschiedlich sind, appelliert Timm an einen Konsens der Libertären. „Das Verbindende betonen, Trennendes sachlich diskutieren: Darauf kommt es an. […] Die Freiheit braucht Freunde, Gefährten: Menschen, die sich gemeinsam wehren und gute Beispiele freiheitlich-friedlichen Handelns geben. Und dazu müssen sie nicht immer in allen Fragen einer Meinung sein“ (S. 173 u. S. 186).
Wer die persönlichen Verkehrsformen innerhalb der anarchistischen Bewegung kennt, kann ermessen, wie weit sie noch von diesem Ziel entfernt ist. Von daher sind Uwe Timms gelungenem Buch Verlorene Kindheit – Errungene Freiheit möglichst viele Leser und weite Verbreitung zu wünschen.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero. Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, Berlin / Neu Wulmstorf, Jg. 15 / Nr. 55 – März 2008, S. 25-32)
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Anmerkungen
[1] Als kleine Auswahl zur weitergehenden Lektüre bieten sich in diesem Zusammenhang an:
- In Zusammenhängen denken und handeln. Uwe Timm im Gespräch mit Peter Peterson, in: Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt. Uwe Timm zum 60. Geburtstag, Berlin: Oppo-Verlag, 1993, S. 110-122.
- Uwe Timm: Mein Weg zur Freiheit, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Veröffentlichungen 1955 bis 2002, hrsg. von Espero, Berlin / Hamburg: Mackay-Gesellschaft o.J. [2002], S. 3-51.
- Uwe Timm: Radikaler Geist: Kurt Zube, Einleitung zu: Wolfgang Eckhardt: Kurt Zube (1905-1991). Nachlassverzeichnis, Berlin: Karin Kramer Verlag, 2006 (= Findmittel und Bibliographien der Bibliothek der Freien; 1), S. 4-20.
- Uwe Timm: Gegen Krieg und Militär: „Den Regierungen das Geld entziehen“. Ein Interview, in: Wolfram Beyer (Hrsg.) für die Internationale der Kriegsdienstgegner/innen – IDK e.V. Sektion der War Resisters‘ International (WIR): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen, Berlin: Oppo-Verlag, 2007, S. 113-122.
[2] Vgl. hierzu die Kapitel Nichts ist schwerer als die Überwindung von Vorurteilen (S. 135-147), Anarchistische Pfingsttagung 1970 – Verlorene Hoffnungen (S. 148-151) sowie Linke Lebenslügen (S. 152-160).