Die existentielle Wette in Zeiten der Pandemie

Arno Widmann: Szenen aus der frühen Corona-Periode, Berlin: Edition.fotoTAPETA_Essay, 2020, ISBN 978-3-940524-91-1, 66 Seiten

Rezension von Markus Henning

Die einen feiern öffentliche Feste und demonstrieren gegen staatliche Gängelung. Voller Sendungsbewusstsein drängen sie zurück zum alten Status Quo, kommen sich vor wie das Kind im Märchen von Andersen. Nur sie sehen, dass der Kaiser nackt ist: Es gibt keinen Virus, sondern nur eine ganz normale Grippe mit ganz normalen Toten!

Die anderen fühlen sich erst jetzt als richtige Staatsbürger und lassen den inneren Blockwart raus. Endlich ist genau vorgeschrieben, wie man sich zu bewegen und zu kleiden hat. Das nehmen sie als klaren Auftrag: Kontrollieren, überwachen, fauchen, anzeigen!

Zwei Pole expansiven Sozialverhaltens. Dazwischen die große Mehrheit. Ihr zugehörig fühlt sich auch Arno Widmann (geb. 1946). Schon aus Faulheit hat er beschlossen, die Situation anzunehmen. Er hat sich aufs Sofa gelegt und zehn Tage lang Geschichten geschrieben. Hat in die Welt hinaus- und in sich selbst hineingehört. Herausgekommen ist ein literarisches Dominospiel. Je nach Begebenheit, je nach Szene, formieren sich seine Überlegungen neu. Das funktioniert gut, weil es jedes Mal andere Dimensionen der Corona-Krise existentiell auslotet. Und weil es trotz entschiedener Positionierung, trotz Menschlichkeit und Fürsorge, vieles in der Schwebe hält.

Mit dem Erprobten, Konventionellen ist die Eindeutigkeit weggebrochen. Die Bedrohung bleibt mikrobiologisch, sinnlich unfassbar, gespenstisch. Die Informationsflut aus Virenforschung und Epidemiologie überfordert selbst die Ärzteschaft. Es gibt keine Blaupause, nirgends! Was bedeutet das für die individuelle Selbstbestimmung, für die eigene Verantwortlichkeit und Handlungsmacht?

Widmann schickt seine Protagonisten auf die Suche. Verschiedene Charaktere in unterschiedlichen Stimmungslagen: Von der Angstblockade bis zum Hochgefühl gesteigerter Lebensintensität. Entsprechend vielfältig sind ihre Antworten.

Aus anarchistischer Perspektive interessieren uns die Besonnenen. Diejenigen, die sich selbst und ihre Entscheidungen ernst nehmen. Die miteinander im Dialog stehen. Denen es trotz aller Unwägbarkeit um eine vernünftige und verallgemeinerungsfähige Begründung der eigenen Lebensführung geht.

Die „Pascalsche Wette“ wird ihr neues Handlungsmodell. Blaise Pascal (1623-1662) hatte auf Gott gewettet. Sie wetten auf SARS-CoV-2: „Exakt, und ich gedenke, mich ihm gegenüber zu verhalten, wie Pascal uns riet, uns Gott gegenüber zu verhalten“ (S. 16). Im Ernstfall ist der Einsatz hoch. Daher ist jene Option die beste, die bei einem Irrtum das geringste Übel produziert. Wenn wir den Virus leugnen und es gibt ihn doch, kann das unsern Tod bedeuten. Gibt es den Virus nicht und wir haben seine Existenz angenommen, nehmen wir wenigstens keinen Schaden. Frei und verantwortlich ist unsere Entscheidung also dann, wenn wir die Gefahr ernst nehmen.

Das ist auch der Grund, wieso bei Widmann ein frühanarchistischer Klassiker diskutiert wird: Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen, verfasst von Etienne de La Boétie (1530-1563): „‚[…] es ist das Buch der Stunde. […] Erinnerst du dich nicht? Wir lasen es vor vielen Jahren zusammen und du warst begeistert.‘ ‚Boétie öffnete uns die Augen für den Wahnsinn, der darin liegt, dass ganze Völker machen, was einer ihnen sagt.‘ ‚Jetzt denke ich, es ist ganz vernünftig, dass wir es tun. Ich bin kein Experte. Ich weiß nicht […], ob sie Recht haben. […] Aber rebelliere ich? Ich denke stattdessen: Was schadet es mir, im Haus zu bleiben?‘“ (S. 37).

In temporärem Gehorsam den Anweisungen der Regierung folgen. Unschuldig bleibt selbst das nicht. Die Pandemie multipliziert geschlechtliche und soziale Benachteiligungen. Viel zu Vielen nimmt das Kontaktverbot die schützende Außenhaut.

Anderen verhilft die körperliche Distanz zu neuen Formen von Nähe und Solidarität: „Die Menschen finden Zeit für Zärtlichkeiten, die sie sonst nicht einmal als solche betrachtet hätten. Corona ist die Auferstehung der Sprache“ (S. 7).

Ein weiterer Sozialtypus bevölkert Widmanns Universum: Der selbstbewusste Eremit, der die Quarantäne als Exerzitium nimmt, Kontakte meidet, sich aus seiner Tiefkühltruhe ernährt. Da ist zum Beispiel Achim, Universitätsdozent ohne Lehrbetrieb. Er erlebt einen Kreativschub, liest wie besessen. Das Gelesene setzt er sofort in Vorträge um, die er sich selbst hält und als Audioaufnahme dokumentiert. „Er braucht kein Publikum mehr. […] Er ist Schöpfer und Geschöpf“ (S. 41 f.). Eine Formulierung, die uns an Max Stirner erinnert. Wir assoziieren: Der Einzige und sein Diktiergerät…

Achim stirbt an COVID-19. Das Diktiergerät läuft weiter, hat seine letzten Worte aufgezeichnet: „Nur wenn man nicht mehr kann, darf man aufhören“ (S. 66).

Immerhin ein Fazit. Vielleicht bleibt doch etwas hängen für nachhaltige Veränderungen?

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 2 / Januar 2021, Special: Die Corona-Krise und die Anarchie, S. 211-213)