Die Eroberung des Alltags, das gute Leben und die sozial-ökologische Transformation

Jürgen Behre / Said Hosseini: Utopie und Arbeit. Brauchen wir eine neue Utopie?, Bildungsurlaub vom 06.-10. März 2023, veranstaltet von Arbeit und Leben (VHS / DGB) – Arbeitsgemeinschaft Frankfurt am Main

Veranstaltungsrezension von Markus Henning

Schaufenster der Karl Marx Buchhandlung in Frankfurt/M. (März 2023); Foto: Henning-Hellmich

Grundlage für individuelle Lebensentwürfe und sozialen Zusammenhalt sind tragfähige Zukunftsbilder. Genau an solchen mangelt es offensichtlich. Spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs war die Dreieinigkeit von ewigem ökonomischem Wachstum, technologischem Fortschritt und allgemein steigendem Wohlstand das Glücksversprechen der westlichen Gesellschaften. Trotz zwischenzeitlicher Umbrüche und Wellen des Unbehagens strukturierte es über Jahrzehnte hinweg den sozialpolitischen Konsens. Mittlerweile spüren wir, dass sich jenes Glücksversprechen auf einen gesellschaftlichen Zustand bezieht, der an seine Grenzen gelangt ist. Multiple globale Krisen stürzen auf uns ein und stellen die Existenzbedingungen der Menschheit insgesamt infrage, ohne dass wir wirklich vorwärtsgewandte Gegenentwürfe hätten.

Worin gründet diese visionäre Obdachlosigkeit? Welche kulturellen Rahmenbedingungen und welche Systemlogiken haben uns in die Sackgasse geführt? Wo finden wir Antworten auf die sozialen und ökologischen Probleme des 21. Jahrhunderts? Und vor allem: Wie können wir Räume der Gestaltbarkeit öffnen, in denen sich kleine Schritte mit großen Perspektiven verbinden?

In diesen Fragenhorizont stellten Jürgen Behre und Said Hosseini den Bildungsurlaub Utopie und Arbeit. Brauchen wir eine neue Utopie? Mit auf die Reise begab sich eine entdeckungsfreudige Gruppe von insgesamt siebzehn Menschen in der Altersspanne zwischen Mitte Zwanzig und dem unmittelbar bevorstehenden Regelrenteneintrittsalter. Ihre persönlichen, generationellen und geschlechtsspezifischen Erfahrungsschätze entstammten unterschiedlichsten Berufsfeldern: Von der Öffentlichen Verwaltung über die Eisenbahn, den psychosozialen Betreuungsdienst und die Sicherheitsbranche, von Finanzdienstleistungen und der Sozialarbeit über die Hauswirtschaft, den Care-Bereich bis hin zur Automobil- und Chemieindustrie.

Die Vielfalt des schon vorhandenen Wissens im gemeinsamen Diskurs zu aktivieren, war das erklärte Ziel der beiden Dozenten. Dabei vertrat Jürgen Behre vor allem die Sicht von Wirtschaftswissenschaft und Philosophie, während Said Hosseini schwerpunktmäßig einem sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz folgte. Gerade dieses Zusammenspiel der Fachrichtungen mit ihren je eigenen Akzenten wirkte anregend und erkenntnisfördernd. Hinzu trat eine didaktisch geglückte Kombination von gemeinsamer Textlektüre, multimedialen Vermittlungsformen, Teamwork in Kleingruppen und Plenumsdiskussionen. Der immer wieder hergestellte Rückbezug auf ihr konkretes Alltagsleben motivierte die Teilnehmenden, sich jederzeit selbst einzubringen und dem inhaltlichen Austausch zu öffnen.

Kritik der Arbeit

Die Utopie-Diskussion begann mit einer ideen- und sozialgeschichtlichen Reflektion über die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse. Berufsbiographisch sind wir ihnen alle auf die eine oder andere Art unterworfen, können also empirisch gleichsam aus dem Vollen schöpfen. Wir bewegen uns in einem auf Produktivitätswachstum getrimmten Wirtschaftssystem, in dem neue Technologien pfadbedingt nicht für Arbeitszeitverkürzungen, sondern zur maximalen Rentabilisierung des eingesetzten Kapitals genutzt werden. Gegenwärtige Tendenzen im Produktions- wie im Dienstleistungssektor sind Digitalisierung, Arbeitsverdichtung und -intensivierung, Arbeitszeitentgrenzung und Flexibilisierung, Auflösung von Stammbelegschaften, Niedriglohnbereich, Prekarisierung etc.[1]

Selbst wenn wir nicht (mehr) berufstätig sind, verlängern sich die Strukturen der Arbeitswelt auf unsere Freizeit und Konsummuster, ja prägen unsere gesamte Kultur. Der Mainstream der Wirtschaftswissenschaften tat sein Übriges, um unser Verständnis von gesellschaftlich anerkannter Tätigkeit inhaltlich auf kapitalistische Lohnarbeit zu reduzieren: Unter „Arbeit“ wird nach dieser Definition eine nützliche Tätigkeit in entlohnter Anstellung verstanden, die monetär messbar zur Steigerung des Bruttoinlandsproduktes beiträgt.

Um unsere Gesellschaft neu denken zu können, müssen wir diese Normalitätsvorstellung überwinden. Das erläutert die französische Soziologin Marie-Anne Dujarier (geb. 1966)[2]. Sie verweist auf soziökonomische Entwicklungen und zivilgesellschaftliche Bestrebungen, die den traditionellen Arbeitsbegriff nachhaltig in Frage stellen. Dabei geht es nicht allein darum, bislang informell oder unbezahlt verrichteten Tätigkeiten eine Stimme zu geben. Es geht auch darum, Wege aus der Fremdbestimmung und Sinnlosigkeit zu bahnen (Stichwort: „Bullshit Jobs“[3]). Und es geht um eine konkrete Kritik an Arbeiten, die soziale oder ökologische Schäden anrichten.

Als erste Annäherung an eine zeitgemäße Utopie könnte also benannt werden: Die Begriffe „Arbeit“ und „Nützlichkeit“ müssen aus der Vereinnahmung durch die Wirtschaftswissenschaft befreit und von der Gesellschaft sowohl diskursiv als auch praktisch angeeignet werden. Für konkrete Modelle eines anderen, egalitären und selbstbestimmten Arbeitens können Erinnerungen an frühere Versuche hilfreich sein. In der Diskussion wurde beispielhaft auf die anarchistischen Selbstverwaltungsexperimente während des Spanischen Bürgerkrieges 1936-1939 verwiesen.[4]

Vom guten Leben

Einem Blick zurück nach vorn folgte auch die zweite Annäherung an utopisches Denken. Sie überprüfte noch grundsätzlicher den zukünftigen Stellenwert des Ökonomischen. Dabei stützte sie sich auf den britischen Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky (geb. 1939) und seinen Sohn, den Philosophen Edward Skidelsky (geb. 1973). Beschreiben könnte man die gemeinsame Forschungsarbeit der beiden als eine Archäologie der Wachstumskritik. Über alle Epochen und Kulturen hinweg legen sie gedankliche Versuche frei, die das „Immer Mehr“ einer entfesselten Wirtschaft an die Kette legen wollen, um dadurch Platz für das „gute Leben“ zu schaffen. Auf wegweisende Art fündig wurden sie schon in der Antike, genauer beim griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.).[5]

Für diesen findet sich die definitiv beste Form der Lebensführung in der Muße. Die Muße ist das „Höchste Gut“, denn nur sie ermöglicht selbstzweckhafte höhere Tätigkeiten wie gedankliche Kontemplation, sittliche Selbstvervollkommnung oder Engagement für die Gemeinschaft. Arbeit, Geld und Gütertausch dagegen sind bei Aristoteles zu bloßen Mitteln herabgestuft. Ihre klar definierte Aufgabe besteht darin, die notwendigen äußeren Glücksgüter bereit zu stellen, von denen sittlich gereifte Menschen allerdings nicht mehr erwerben werden, als sie für ein gutes Leben unbedingt benötigen. Eine Perspektive der Selbstgenügsamkeit, in welcher der Austausch von Gütern so lange funktional ist, wie deren Gebrauchswerte um ihrer selbst willen getauscht werden.

Einer ganz anderen und zwar zerstörerischen Logik folgt die „Kapitalerwerbskunst“, deren strukturelle Folgen Aristoteles sehr klarsichtig beschreibt: Von einem Tauschmittel wird das Geld und seine Vermehrung zum Selbstzweck – entweder indem Waren teurer verkauft als eingekauft werden, oder indem das Geld selbst gegen Zinsen verliehen wird. Da Geldvermögen keine rationale Grenze kennen, entsteht eine Dynamik der Unersättlichkeit mit einer entsprechenden Produktion sozialer Ungleichheit.

Ohne zu beschönigen, dass Aristoteles privilegiertes Mitglied der attischen Sklavenhaltergesellschaft war, schreiben die Skidelskys: „Derlei Vorwürfe gegen Aristoteles sind ja schön und gut, aber sie treffen nicht das, was am Tiefsten und Dauerhaftesten in seinem Denken ist. Aristoteles‘ Vorstellung von einem guten Leben mag beschränkt sein, aber seine Annahme, dass es ein gutes Leben gibt und dass Geld nichts weiter als ein Mittel ist, um dieses gute Leben führen zu können, ist – mit Ausnahme der unseren – jeder großen Weltzivilisation zueigen.“[6]

Festzuhalten bleibt: Muße ist die Schwester der Freiheit und Vorbedingung eines guten Lebens. Muße lehrt uns Achtsamkeit und Selbstaufklärung. Sie fordert uns auf, die Langsamkeit zu entdecken und das Warten neu zu lernen.[7] Eingeübte Muße untergräbt unsere leistungsorientierte Vergleichskultur. Auch hierfür gibt es konkrete utopische Vorbilder. In der Diskussion wurden Gruppen wie „Die Glücklichen Arbeitslosen“ genannt.[8] Ebenfalls erwähnt wurden aktuelle Experimente mit Komplementärwährungen zur Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Ganz im Sinne von Aristoteles, für den Geld nichts als ein Tauschmittel sein sollte, experimentieren etliche dieser Projekte mit einer Geldumlaufsicherung in Form periodisch anfallender Gebühren.[9]

„Was wäre, wenn wir nicht scheitern?“

Straßenszene in Frankfurt/M. (März 2023); Foto: Henning-Hellmich

Die bis dahin gemeinsam erarbeiteten Grundlagen einer neuen ökologischen Sensibilität wurden zur Mitte des Bildungsurlaubs gewissermaßen einem Realitätsschock unterzogen. Eine gemeinsame Exkursion führte in das Museum für Kommunikation Frankfurt zu Klima_X. Eine Ausstellung zur Kommunikation der Klimakrise. Sie vermittelt in großer Eindringlichkeit die schiefe Ebene, auf der wir mit unserer fossilen Produktions- und Lebensweise in Richtung ökologischen Kollaps rutschen. Der treibhausgasbedingte Temperaturanstieg und die begleitenden Extremwetterereignisse machen immer größere Teile des Planeten unbewohnbar. Mit zunehmender Beschleunigung zersetzt sich die Biodiversität und versauern die Ozeane. Klima_X legt den Finger auf die Wunde unserer emotionalen Verdrängungsleistung und führt uns vor Augen, wie das erforderliche Handeln auf weltpolitischer Ebene in Diskursen der Verzögerung blockiert wird.

All dies soll uns aber nicht in die Resignation drängen. Im Gegenteil: Es will uns aufrütteln und dazu anstiften, endlich das zu tun, was für ein nachhaltiges Leben notwendig ist. Der letzte Ausstellungsteil steht unter dem Motto: „Was wäre, wenn wir nicht scheitern?“. Wir erfahren von der revolutionären Kraft sozialer Bewegungen, werden von Klimapionier:innen inspiriert und dürfen zum Abschluss einen Telefonanruf in die Zukunft wagen: Wie genau sieht das gute Leben in einem klimagerechten Frankfurt 2048 aus?

Daraus können wir Hoffnung schöpfen, die für den Veränderungsprozess unerlässlich ist. Dass dabei ökologische und soziale Fragen verknüpft werden müssen, betont Klima_X mit einem Zitat des US-amerikanischen Anthropologen Joseph Tainter (geb. 1949): „Wenn eine Gesellschaft nicht mit der Erschöpfung ihrer Ressourcen umgehen kann, drehen sich die wirklich interessanten Fragen um die Gesellschaft und nicht um die Ressource.“[10]

Zivilisierung gesellschaftlicher Problemlagen

Erst wenn Menschen bereit sind, Konflikte einzugehen, und andere Menschen dazu zwingen, sich mit diesen Konflikten auseinanderzusetzen, kann sich etwas ändern. Damit ist ein zivilgesellschaftliches Bewegungsmoment der sozial-ökologischen Transformation beschrieben. Um sich noch tiefer in diesen Prozess hineinzudenken, analysierte der Bildungsurlaub am nächsten Tag ein Utopie-Gespräch des Philosophen Richard David Precht (geb. 1964) mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer (geb. 1958).[11]

Beide warnen übereinstimmend vor technokratischen Weltverbesserungsstrategien. Das binäre Schema – „Hier ist ein Problem, dort ist die Lösung!“ – wird der Komplexität menschlicher Vergesellschaftung nicht gerecht. Menschliche Probleme sind immer Beziehungsprobleme, deren Dynamik von den aktiv Handelnden selbst abhängt. Das macht Prognosen so schwierig. Es ist eine grundlegende Eigenschaft der Zukunft, dass wir nicht wissen, wie sie aussieht. Statt fertiger Masterpläne brauchen wir einen Diskurs über die Möglichkeiten alternativer Entwicklungspfade.

Dabei können neue Technologien grundsätzlich unterstützend wirken, werfen aber immer das Problem der Gestaltbarkeit auf. Wobei sollen sie uns eigentlich helfen, solange die Gesellschaft sich nicht darüber verständigt hat, wohin sie will?

Um diesen Verständigungsprozess zu befördern, müsste es einer humanen Gesellschaftsutopie darum gehen, einen Vorgeschmack der Zukunft ins Hier und Jetzt holen. Das kann nur modular geschehen, d.h. über unterschiedlichste sozial-ökologische Projekte, in denen ein besseres menschliches Zusammenleben und eine bessere Sorge um die Natur eingeübt werden können. Ohne auf die politischen Institutionen zu warten, muss die Zivilgesellschaft viele kleine Transformationen anstoßen, die im Idealfall zusammenwirken, ein plurales Universum konkreter Utopien bilden und vorwärtsweisende Impulse setzen. Nur so wird der anstehende Epochenwechsel zu bewältigen sein.[12]

Postwachstum und Bedingungsloses Grundeinkommen

Wie ist es aber zu schaffen, dass machbare Utopien aus einem bloßen Nischendasein herauswachsen und die gesellschaftlichen Strukturen wirklich verändern? Das ist ein tiefgreifendes Transformationsproblem. Die unterschiedlichen Positionen im aktuellen Postwachstums-Diskurs können als Antwortversuche verstanden werden.

Auf diesem Teil unserer Entdeckungsreise folgten wir zunächst dem Gedankengang der Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann (geb. 1964).[13] Um von der kapitalistischen Expansionsdynamik zu einer wachstumsbefreiten ökologischen Kreislaufwirtschaft zu gelangen, fordert sie eine Rationierungspolitik und eine zentrale Steuerung von Produktion und Verteilung nach Muster der 1939 in Großbritannien eingeführten Kriegswirtschaft. In seiner Staatsfixiertheit ist ihr „Top-down“-Ansatz jedoch nur schwer vereinbar mit den drei Zieldimensionen, die seit den frühen 2000er Jahren von der neuen, akademisch-aktivistischen Postwachstumsbewegung entwickelt wurden: 1) Reduktion des Stoffwechsels mit der Natur; 2) Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und ein gutes Leben für alle; 3) Aufbau wachstumsunabhängiger Infrastrukturen.[14]

Deutlich näher an jenen utopischen Bestrebungen steht der Ökonom Niko Paech (geb. 1960).[15] Seine basisdemokratische „Bottom-up“-Strategie setzt auf eine dezentrale und kleinräumige Entfaltung genügsamer Gegenkulturen über folgende Momente: 1) Suffizienz, d.h. Minimierung eigener Konsumbedarfe; 2) Subsistenz, d.h. Ersetzung industrieller Güterproduktion durch marktfreie Eigenherstellung, Gemeinschaftsnutzung und Bestandserhalt; 3) Entwicklung von Regionalökonomien mit limitierten Betriebsgrößen; 4) Eine deutlich verkleinerte Industrie, die einen ökologisch verantwortbaren Bestand an Gütern erhält und qualitativ verbessert.

Dass in Paechs Genügsamkeitsansatz Anklänge an das aristotelische Denken zu vernehmen sind, war Gegenstand der Diskussion. Außerdem wurde auf den Soziologen Klaus Dörre (geb. 1957) verwiesen.[16] Dessen Transformationsutopie beschäftigt sich noch deutlicher mit der gesellschaftlichen Produktionssphäre, liefert also weitergehende Hinweise darauf, wie zivilgesellschaftliche Mitbestimmung verallgemeinert werden könnte.

Das Sich-Hineinversetzen in konträre Positionen ist für eine gedankliche Suchbewegung immer förderlich. Erfahrbar machte das der Bildungsurlaub auch beim Thema Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Unter einem BGE wird ein Finanztransfer verstanden, der jedem Mitglied eines politischen Gemeinwesens den individuellen Zufluss eines möglichst existenzsichernden Einkommens garantieren soll, unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage, ohne sozialadministrative Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung. Das BGE soll die Möglichkeit beinhalten, parallel anderweitig Einkünfte zu beziehen, setzt diese aber nicht voraus.

Als machbare Utopie steht dieses Konzept wieder verstärkt in der Debatte. Hintergrund sind Zukunftsprognosen über die beschäftigungspolitischen Folgen von Künstlicher Intelligenz (Stichwort: „Industrie 4.0“). Seine Befürworter betrachten das BGE als die einzige Möglichkeit, massenhaft bevorstehende Arbeitsplatzverluste aufzufangen. Seine Gegner gehen davon aus, dass eine gesteigerte Prosperität andernorts genügend neue Stellen schaffen wird (Kompensationsthese).[17] Als Alternativmodell zu arbeitsgesellschaftlichen Sozialsystemen ist das BGE auch ansonsten heiß umstritten. Themen der Auseinandersetzung sind die Finanzierungsarten und Verteilungsmechanismen, das zugrunde liegende Menschenbild und die Auswirkungen auf Partizipations- und Entfaltungschancen, auf Arbeitsmoral und marktwirtschaftliche Leistungsanreize.[18]

Praktisch ausprobiert wurde das BGE schon in unterschiedlichsten Ländern, wenn auch nur auf lokaler und regionaler Ebene. Gerade solche Pilotprojekte sind es aber, die uns den Anstoß geben, anders zu sprechen, anders zu denken und zugrundeliegende Problemlagen anders zu beschreiben. Oder wie der niederländische Historiker und Aktivist Rutger Bregman (geb. 1988) schreibt: „Utopien beginnen immer mit kleinen Experimenten, die langsam die Welt verändern.“[19]

Utopie und Alltag

Wenn es eine praxisbezogene Quintessenz all der zusammengetragenen Anregungen, Analysen, Einsichten und weiterführenden Gedanken gibt, dann lautet sie: Die sozial-ökologische Transformation ist kein Prozess, der von unserer individuellen Daseinsgestaltung losgelöst ist. Sie kann nicht durch politische Rahmenbedingungen oder technologische Entwicklungen ferngesteuert werden. Wir werden unsere Komfortzone verlassen und selbst aktiv Verantwortung übernehmen müssen.

Mit einer Kritik der Arbeit hatte unsere einwöchige Bildungsreise begonnen. Ihr Ziel erreichte sie in konkreten Handlungsfeldern „gelebten Wandels“.

Ein Beispiel ist die Transition-Town-Bewegung, in deren Rahmen seit 2006 Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiativen in vielen Städten und Gemeinden der Welt aktiv sind. Inspiriert sind sie von dem britischen Umweltaktivisten Rob Hopkins (geb. 1968) und seiner Vision einer postfossilen Welt, in der menschliche Beziehungen und Kooperation mehr zählen als Konsum und Konkurrenz. Der Anstoß nachhaltiger Lebens-, Wirtschafts- und Konsumformen vor Ort soll Menschen ins selbstorganisierte Handeln bringen und aus regionaler Kleinteiligkeit eine globale Bewegung entstehen lassen (Freiwillige Genügsamkeit; Praktiken des Tauschens und Teilens; Regionalwährungen; Vergemeinschaftung von Gegenständen, Technologien und Ressourcen; Leben in Ökodörfern; Urban Gardening; Soziale Landwirtschaft; ökologische Energiegewinnung etc.).[20]

Ein Film über die nordhessische Kleinstadt Witzenhausen – sie wurde 2009 offiziell als „Transition Town“ anerkannt – ließ uns entsprechende Praxisbeispiele mitverfolgen.[21] Dabei wurde greifbar, wie wichtig ein besseres soziales Miteinander für die Erhöhung der Lebensqualität und damit für die Resilienz der Gemeinschaft ist. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist der beste Weg, um Dinge in Bewegung zu bringen.

In diesem Sinne ist der Alltag unsere beste Universität – unter der Voraussetzung, dass wir darüber reflektieren. Mit dieser abschließenden Botschaft entließ uns Said Hosseini in die eigenständige Suche nach machbaren Utopien.

Der von ihm und Jürgen Behre geleitete Bildungsurlaub hat alle Teilnehmenden tief bewegt. Er war selbst ein Stück gutes Leben.

Epilog

Besetztes Haus im Frankfurter Gallus (Dezember 2022); Foto: Henning-Hellmich

Der Bildungsurlaub Utopie und Arbeit. Brauchen wir eine neue Utopie? fand vom 06.-10. März 2023 im Hauptgebäude der Volkshochschule Frankfurt am Main statt (Sonnemannstraße 13). Eine sinnfällige Fügung wollte, dass in den dortigen Fluren am letzten Tag des Bildungsurlaubs eine Ausstellung eröffnet wurde, in der es ebenfalls um Utopien eines anderen Lebens geht. Sie trägt den Titel Dieses Haus ist besetzt! Frankfurter Häuserkampf 1970-1974 und wird noch bis Juni 2023 zu sehen sein.[22]

Die mehr als zwanzig großformatig präsentierten Plakate, Fotos, Zeitungsausschnitte, Flugblätter und anderen Materialien laden zur Zeitreise ein. Präsentiert werden Hintergründe und Verlaufsformen des bundesweit ersten Zyklus von Hausbesetzungen.

Mittlerweile ist die kollektive Inbesitznahme leerstehenden Wohnraums eine bewährte Tradition zivilen Ungehorsams, in der vorrangig jüngere Menschen um konkrete Alltagsbedürfnisse und inklusive Lebensformen, um kulturelle Freiräume und um eine Neudefinition von Urbanität kämpfen. Heute, wo Bezahlbarkeit, Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Wohnraum immer mehr in die Mühlen neoliberaler Gentrifizierung geraten, ist dieser Kampf wichtiger denn je. Er ist Teil der sozial-ökologischen Transformation und verdient unsere aktive Unterstützung!

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Anmerkungen

[1] Vgl. Atlas der Arbeit. Daten und Fakten über Jobs, Einkommen und Beschäftigung, Berlin: Deutscher Gewerkschaftsbund / Hans-Böckler-Stiftung, 2018 (online; 19.03.2023).

[2] Vgl. Macht arbeiten Sinn? Offene Ideen mit Marie-Anne Dujarier, Arte, 2022, Video auf YouTube; abgerufen am 19.02.2023.

[3] Vgl. David Graeber: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018.

[4] Vgl. Gaston Leval: Das libertäre Spanien. Das konstruktive Werk der Spanischen Revolution (1936-1939), Hamburg: Verlag Association, 1976.

[5] Vgl. Robert und Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, München: Verlag Antje Kunstmann, 2013, S. 102-111.

[6] Ebenda, S. 111.

[7] Vgl. Timo Reuter: Warten. Eine verlernte Kunst, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2019 (siehe die Buchrezension von Markus Henning).

[8] Vgl. Die Glücklichen Arbeitslosen: Auf der Suche nach unklaren Ressourcen, Berlin: Selbstverlag, o.J.; Dipl.-Ing. A. Narcho: Stell dir vor, es gibt Arbeit für alle, und keiner geht hin. Die postindustrielle Anarchie. Das Recht auf Arbeit ist Recht auf Ausbeutung, Berlin: Karin Kramer Verlag, 1993.

[9] Vgl. Margrit Kennedy / Bernard A. Lietaer: Regionalwährungen. Neue Wege zu nachhaltigem Wohlstand, München: Riemann Verlag, 2004.

[10] Joseph Tainter, zit. in: Klima_X. Eine Ausstellung zur Kommunikation der Klimakrise (Laufzeit 13.10.22-27.08.23), Ausstellungsflyer, Frankfurt am Main: Museum für Kommunikation Frankfurt, 2022.

[11] Vgl. Utopien – Rezepte für die Zukunft? Richard David Precht im Gespräch mit Harald Welzer. Doku (2020), ZDF, Video auf YouTube; abgerufen am 22.03.2023.

[12] Vgl. Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 5. Aufl., Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2019 (siehe die Buchrezension von Markus Henning).

[13] Vgl. Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus – Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022.

[14] Joline Schmallenbach: Postwachstum, in: Diskursmonitor. Glossar zur strategischen Kommunikation in öffentlichen Diskursen, hrsg. v. der Forschungsgruppe Diskursmonitor und Diskursintervention, veröffentlicht am 19.04.2020 (online; 23.03.2023); Matthias Schmelzer / Andrea Vetter: „All you talk about are fairy tales of eternal economic growth.“ Degrowth als konkrete Utopie für eine klimagerechte Zukunft, in: Benjamin Görgen / Björn Wendt (Hrsg.): Sozial-ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapitalismus, München: oekom Verlag, 2020, S. 131-147.

[15] Vgl. Niko Paech: Wirtschaftswachstum als essentielle Bedrohung, in: Katja Gentinetta / Niko Paech: Wachstum, Reihe Streitfragen, hrsg. v. Lea Maria Eßer, Frankfurt am Main, 2022, S. 57-99 (siehe die Buchrezension von Markus Henning).

[16] Vgl. Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution, Berlin: Matthes & Seitz, 2021.

[17] Vgl. Richard David Precht: Freiheit für alle. Das Ende der Arbeit, wie wir sie kannten, München: Goldmann, 2022.

[18] Vgl. Ute Fischer: Das Bedingungslose Grundeinkommen – Drei Modelle, Netzdebatte – Zukunft der Arbeit, Bundeszentrale für politische Bildung, veröffentlicht am 17.03.2016 (online; 23.03.2023).

[19] Rutger Bregman: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das Bedingungslose Grundeinkommen, 16. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2021, S. 54.

[20] Vgl. Rob Hopkins: Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen, München: oekom Verlag, 2014.

[21] Vgl. David Vehreschild: Witzenhausen ist Transition Town: Transition Town Witzenhausen – eine Kleinstadt wappnet sich, Video auf evidero. anders arbeiten – besser leben, www.evidero.de; abgerufen am 24.03.2022.

[22] Erstmalig wurde sie im Herbst 2020 im Frankfurter Studierendenhaus gezeigt; vgl. Dieses Haus ist besetzt! Frankfurter Häuserkampf 1970-1974. Dokumentation der Ausstellung, Hrsg.: Archiv der Revolte e.V. / Offenes Haus der Kulturen e.V. / Institut für Selbstorganisation e.V., Frankfurt am Main: Selbstverlag, 2020.