Der Genossenschaftsgedanke und seine libertären Potentiale

Gisela Notz: Genossenschaften. Geschichte, Aktualität und Renaissance, Reihe black books, Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2021, ISBN: 3-89657-069-2, 266 Seiten, 16,80 €
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Rezension von Markus Henning

Wir haben keinen Anspruch auf eine bessere Welt – wir haben die Verantwortung, sie aktiv ins Werk zu setzen. Handlungsspielräume gibt es genug, Erfahrungsschätze auch. Nur wenn wir sie ausloten und wirklich beginnen, können wir Beispiele geben für ein friedliches, sozial- und naturverträgliches Leben frei assoziierter Individuen. Es geht um die Strahlkraft des Experiments und um den Aufbau sozialökonomischer Gegenstrukturen, die Partizipation und Solidarität an die Stelle von Konkurrenz und Herrschaft setzen.

Ein praktikables Modell können genossenschaftliche Zusammenschlüsse und ihre gemeinwirtschaftliche Vernetzung sein. Das ist die These von Gisela Notz (geb. 1942). Sie ist ausgewiesene Expertin für alternatives Wirtschaften und feministische Theorie und Praxis. Ihr neues Buch nimmt die Strömungen der Genossenschaftsbewegung in den Blick, zeichnet ihre sozialen und geschichtlichen Bezüge nach, führt uns aber auch ihre aktuellen Ausformungen und zukunftsweisenden Perspektiven vor Augen.

Zugrunde liegt die Idee von ökonomischer Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit: Eine Gruppe von Personen vereinigt sich auf Basis gemeinschaftlichen Eigentums zu kollektivem Geschäftsbetrieb, wirtschaftsdemokratisch ausgerichtet an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder. „Weltweit sind rund 800 Millionen Menschen in Genossenschaften, auch Kooperativen genannt, organisiert. […] In Deutschland gibt es fast 8.000 Genossenschaften mit mehr als 22 Millionen Mitgliedern. Seit mehr als 160 Jahren sind Genossenschaften im Finanzwesen, in der Landwirtschaft, in Handel und Gewerbe oder im Wohnungsbau erfolgreich“ (S. 18). Im Verlauf der Geschichte wurden sie zu Trägern unterschiedlichster Motivlagen. Diese reichten von christlich-konservativen Ideen über liberal-soziale Programme, von sozialistischen Konzepten bis hin zu anarchistischen Vorstellungen.

Letzteren weist Gisela Notz eine besondere Bedeutung zu. Ihr Herz schlägt für die sozialutopische Stoßrichtung, welche sie prototypisch im libertären Experimentalsozialismus von Gustav Landauer (1870-1919) verkörpert sieht. Als Mitbegründer der Arbeiterkonsumgenossenschaft „Befreiung“ hatte dieser 1895 in Berlin versucht, seiner Vision vom allmählichen Ausstieg aus der kapitalistischen Warengesellschaft Gestalt zu geben. Ziel war der Aufbau einer Basis wirtschaftlicher Gegenmacht durch Organisation der Kundschaft und Umgehung des Zwischenhandels. In einem zweiten Schritt sollte der einbehaltene Handelsprofit in die Gründung von Produktivgenossenschaften und deren Verknüpfung mit dem Konsumverband fließen. „Ich sage nicht: Erst zerstören, dann aufbauen! Das überlasse ich denen, die in dem allgemeinen Chaos für sich eine Herrscherrolle herausfinden wollen. Vielmehr sei unsere Losung: Erst aufbauen! In der Zukunft wird es sich herausstellen, ob überhaupt noch etwas Zerstörenswertes aufrecht stehen geblieben ist“ (Landauer, zit. in: S. 75). Als anarchistisches Genossenschaftsprojekt hat die „Befreiung“ sich während der fünf Jahre ihres Bestehens in die Geschichte radikaler Sozialreform eingeschrieben.

Weitere bedeutende Anarchisten, die das Potential genossenschaftlicher Organisationen betonten, waren z.B. Peter Kropotkin (1842-1921) und Rudolf Rocker (1873-1958). In seinen 1947 veröffentlichten Überlegungen für einen freiheitlich sozialistischen Neubeginn versuchte Rocker, den anarchistischen Diskurs in entsprechende Richtung zu lenken. Im Nachkriegsdeutschland blieb die libertäre Inanspruchnahme des Genossenschaftsgedankens jedoch noch lange ein bloß theoretischer Entwurf.

Zur Quelle praktischer Inspiration wurde sie erst wieder bei den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre. In kritischer Aneignung genossenschaftlicher Traditionen entfaltete sich ein plurales Universum basisdemokratischer Initiativen, selbstverwalteter Betriebe, regionaler Unternehmensformen und neuer Netzwerke, um hierarchie- und diskriminierungsfreie, ökologisch nachhaltige Arbeits-, Austausch- und Lebensformen zu erproben. Ein kollektiver Lernprozess, der bis heute andauert, sich erfolgreich auf immer neue Geschäfts- und Kulturfelder ausdehnt und konkrete Lösungen für fehlende Freiräume und für drängende soziale Problemlagen bietet (z. B. Frauen-, Schul-, Wohn-, Energie-, Medien- oder Infrastrukturgenossenchaften).

„Eine weitere Ausbreitung von Genossenschaften mit politischem Anspruch kann zu weiterer Vergemeinschaftung von Grund und Boden und Eigentum und damit zu Interventionen führen, die zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel hinleiten. […] Die Experimente müssen weitergehen“ (S. 255 f.).

Als Bausteine für ein dynamisches Transformationsmodell jenseits von staatlichem Zwang und kapitalistischer Ausbeutung sind genossenschaftliche bzw. genossenschaftsähnliche Initiativen „soziale Kunstwerke“ und „Fenster in eine andere Welt“ (S. 203 u. 251). Gisela Notz eröffnet uns einen ebenso umfassenden wie anregenden und hoffnungsfrohen Ausblick. Für libertäre Alltagspraxis ist ihr Buch ein unentbehrliches Kompendium.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 4 / Januar 2022, S. 311-313)