Der Garten und die Anarchie

Andrea Baier / Christa Müller / Karin Werner (Hg.): Unterwegs in die Stadt der Zukunft. Urbane Gärten als Orte der Transformation, Bielefeld: transcript Verlag, 2024 (= Neue Ökologie; 11), ISBN: 978-3-8376-7163-6, 431 Seiten, 24,00 € (Open Access im PDF-Format)

Rezension von Markus Henning

Beim Herunterwirtschaften des Planeten mischt das Alltagsleben in unseren Städten kräftig mit. Der Sog der Urbanisierung gleicht einer Einbahnstraße. Aktuell sind etwa 57% der Weltbevölkerung in einer Stadt zuhause. Obwohl Städte weniger als 3% der globalen Fläche einnehmen, stoßen sie rund drei Viertel aller energiebedingten Treibhausgase aus. Städte verbrauchen 80% aller Ressourcen, um im Anschluss 70% des gesamten Mülls zu hinterlassen. Städte treiben die weltumspannende Bodenkrise an. Insbesondere auf der Nordhalbkugel ist ihre Ernährung abhängig von globalisierten Lieferketten der Agrar- und Lebensmittelindustrie.

Zu deren Produktionsmethoden gehören Land Grabbing, Abholzung und Monokultur, intensive Bebauung und Übernutzung, Einsatz von Pestiziden und künstlichem Dünger. Das entzieht natürliche Vital- und Nährstoffe, eskaliert Wasserknappheit und Artensterben, führt zum Verlust landwirtschaftlicher Lebensgrundlagen. Im globalen Maßstab gilt bereits mehr als die Hälfte sämtlicher Böden als so weit geschädigt, dass sie sich nicht mehr aus eigener Kraft erholen kann.

Der Aufbruch in eine lebensdienlichere Zukunft setzt voraus, dass andere Formen des Weltbezugs konkret erfahrbar werden. Nicht politische Herrschaft wird uns retten, nicht die Heilsversprechen der Großtechnologie und auch nicht die Gnade der Superreichen. Das können nur Bewegungen schaffen, die sich der Funktionslogik des Bestehenden auf emanzipatorische Weise entziehen.

Ihr Netzwerk der Hoffnung ist über alle Kontinente verzweigt. Es umfasst indigene Gemeinschaften, die biologische Vielfalt verteidigen. Es umfasst kleinbäuerliche Kämpfe um Ernährungssouveränität. Es umfasst all die Kooperativen, Genossenschaften wie Gruppen, die Alternativökonomien testen, die Habitate wiederbeleben und regenerative Anbaumethoden ins Werk setzen. Und das nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt!

Urbane Landwirtschaft und Gemeinschaftsgärtnern sichern in weiten Teilen des Globalen Südens die Selbstversorgung von Marginalisierten. Auch in unseren Breiten kann auf eine subversive Tradition zurückgeblickt werden.

Als Gedanke und Tat hat der städtische Gartenbau u.a. im Anarchismus seine Spuren hinterlassen: Schon während der 1880er Jahre bei Pjotr A. Kropotkin und seinem Modell Sozialer Revolution, gut acht Jahrzehnte später z.B. in den Stadtbauernhöfen der Amsterdamer Kabouter. Für die britische Gartenstadtbewegung engagierte sich Colin Ward. Der bedeutende Vordenker des pragmatischen Anarchismus war ab 1971 Bildungsbeauftragter der Town and Country Planning Association (TCPA). Ebenfalls während der 1970er Jahre waren es die Green Guerillas von New York, die vernachlässigte Brachflächen und Parkplätze in biodiverse Oasen verwandelten.

Diese Vorgeschichte weckt Neugier auf das Hier und Jetzt. „Urban Gardening“ ist auch bei uns im Alltagssprachgebrauch angekommen. Das beschreibt den Erfolg einer Bewegung, die sich seit den frühen 2000er Jahren aus zivilgesellschaftlichen Initiativen heraus neu erfunden hat. Mittlerweile weist sie eine Vielfalt von Organisationsstrukturen auf, entfaltet unterschiedlichste Kooperationsformate nach innen und außen.

Materialien zur Annäherung bietet jetzt ein Buch aus dem Bielefelder transcript Verlag. Es trägt den Titel Unterwegs in die Stadt der Zukunft. Urbane Gärten als Orte der Transformation.

Andrea Baier, Christa Müller und Karin Werner haben es herausgegeben, mit einem Eingangskapitel versehen und im Ausklang ergänzt durch Reportagen über 26 Ortsbegehungen. Ihre Expertise stammt aus teilnehmender Beobachtung. Als Mitarbeiterinnen der Münchener anstiftung fördern und erforschen sie über ganz Deutschland hinweg Schauplätze des Selbermachens.

Für den Mittelteil ihres Sammelbandes haben sie insgesamt 25 weitere Autor:innen gewinnen können. Diese sind ebenfalls langjährig und auf je eigene Weise mit den neuen Gemeinschaftsgärten befasst. Nicht allein aus der Perspektive von Aktivismus und Kollaboration, sondern auch unter wissenschaftlichen Vorzeichen: Vertreten sind neben der Stadt- und Regionalforschung, neben Geographie und Landschaftsarchitektur, z.B. auch Umweltökonomie und Bibliotheksdidaktik, Sozialwissenschaften und Feministische Politische Ökologie.

Im Erfahrungsgesättigten und Interdisziplinären dieser Beiträge ersteht das Kaleidoskop einer gemeinschaftsgetragenen Praxis, die mit der sozial-ökologischen Transformation einfach mal beginnt. Sie führt vor Augen, „[…] wie man Quartiere belebt, die Bodenqualität erhöht, die Stadt essbar(er) macht, Wasser spart, Regenwasser nutzt, mit Vandalismus umgeht, Flächen, zum Beispiel Friedhöfe, umnutzt, dem Asphalt Grün abtrotzt, die Begegnung von Neuankömmlingen und Alteingesessenen organisiert, mit Institutionen zusammenarbeitet, Insekten schützt“ (S. 59).

In der eigenen Nachbarschaft wird ein lokales Erfahrungswissen generiert, das bei der Lösung globaler Aufgaben helfen könnte. Zugleich – und diese Lesart der Bestandsaufnahmen und Ausblicke wollen wir hier stark machen – lässt sich das Urban Gardening verstehen als eine Verräumlichung gesellschaftlicher Utopien. Gemeinschaftliches Gärtnern kann Vorschule sein für einen zeitgemäßen Ökoanarchismus.

GallusGarten. Urban Garden-Projekt in Frankfurt am Main (August 2023); Foto: Henning-Hellmich

1) Selbstorganisieren. Ob durch Besetzung von Grundstücken initiiert, über kommunale Zuteilung oder mittels gemeinnütziger Stiftungen: Immer ist Gemeinschaftsgärtnern verbunden mit einer Inanspruchnahme von Handlungsmacht. In kollektiven Prozessen der Raumaneignung werden Flächen urbar gemacht, Infrastrukturen entwickelt und Gestaltungskonzepte ausgehandelt. Nicht nur Pflanzen werden gepflegt, sondern auch die Selbstorganisation der Beteiligten. Ihr Gartenaktivismus ist in aller Regel getragen von einer basisdemokratischen Ethik des Wir-Selbst. Jedes Projekt ist eine kleine Republik. „Würden utopische Gemeinschaftsgärten überall auf diesem Planeten morgen wie Pilze aus dem Boden schießen – an jeder Ecke der Stadtteile einer Stadt in sämtlichen Städten in allen Ländern – , könnten wir sehen, wie die Erde zur Basis einer Rätedemokratie geworden ist; nur durch eine solche Art von Menschen, die in ihrem täglichen Leben wenig Besseres zu tun haben, als ‚für eine bessere Welt zu gärtnern‘ […]“ (S. 133).

2) Teilen. Zusammen mit anderen in einem möglichst herrschaftsfreien Raum etwas zu bewirtschaften, das lehrt einiges über das gute Leben. Viele der urbanen Gärten verstehen sich als wild wucherndes Allmende-Experiment, in dem alles allen gehört. Aber auch Projekte mit individuellen Parzellen teilen Werkzeuge, Saatgut, Infrastruktur, Grund und Boden. Dieses Teilen markiert den Anfang einer ökologisch-solidarischen Lebensform. In ihr wird nicht entlang von Eigentumstiteln und Preisen agiert. Handlungsleitend ist die Frage, wozu Dinge dienen, wie sie eingebunden und wem sie anvertraut sind. Gebrauchswertorientierung setzt andere Produktivitäten frei. Jenseits von Erwerbsarbeit erlangen Menschen Teilautonomie über ihr Essen zurück und betten die Ernährungswirtschaft wieder sozial ein. Die nichtkommerzielle Anbauvielfalt ihrer Bioprodukte macht so manche Gartencommunity zur Tischgemeinschaft. Wo Gärtnern in Kochen und Genießen der geteilten Ernte übergeht, wird Selbstversorgung zum sozialen Gesamtkunstwerk.

3) Pflegen. Urbane Gartenarbeit lässt sich beschreiben als Direkte Aktion des Aufmerksam-Werdens, des Sich-Kümmerns, des Heilens und Reparierens. Sie ist eine Alltagspraxis, in der die Beteiligten wieder Anschluss an die Natur finden. Gemüsebeete und Komposthaufen inmitten der Stadt verbinden menschliches Zutun mit der Erde und ihren Stoffwechselvorgängen. „Kompost ist die Kunst der lebendigen Transformation, bei der aus toter Materie neues Leben entsteht. Das Ergebnis einer ausgeklügelten Komposition von Wärme, Sauerstoff und Feuchtigkeit in Kombination mit Würmern, Pilzen und anderen Mikrolebewesen ist eine lebensstiftende, schwarz-braune Materie, die von zentraler Bedeutung bei der Bekämpfung der Bodenkrise ist. Qualitativer Kompost ist ein essenzielles Werkzeug, um Böden zu revitalisieren“ (S. 144). Die Diversität unterschiedlich getakteter Wachstums- und Kompostierungszyklen unterläuft das lineare Zeitregime des Kapitalismus. Praktizierte Ökologie erdet die Lebensführung.

Urban Gardening in Moorbadewannen. Ein Projekt des Fördervereins Landesgartenschau 2026 Bad Nenndorf e.V. (Oktober 2024); Foto: Henning-Hellmich

4) Umbauen. Gemeinschaftsgärten können die Stadt für ein neues Naturverhältnis öffnen. Als Keimzellen der Selbstwirksamkeit haben sie das Potential, die Kommunalpolitik nachhaltig herauszufordern. In pflanzlichen Interventionen scheinen realistische Möglichkeiten auf: Eine transformative Pädagogik, die aufwertet, was lange Zeit als rückständig verlacht wurde. Eine Sensibilität, die menschliches und nicht-menschliches Leben gleichermaßen umfasst. Eine Bemessung von Bodenwert nicht nach finanziellem Profit, sondern nach Gemeinwohl. Eine urbane Ernährung aus eigenen Ressourcen ohne Zugriff auf auswärtige Ländereien. Eine Ästhetik der Fürsorge und des kuratierten Durcheinanders. Eine postfossile Stadt mit Anbauflächen statt Autotrassen. Allerdings ist der Weg nur dann das Ziel, wenn er nicht von administrativen Logiken überformt wird. Die Zukunft des Gärtnerns hängt ab vom Kultivieren seiner anarchistischen Gehalte.

Unterwegs in die Stadt der Zukunft ist ein schönes Dokument partizipativer Aktionsforschung. Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner und ihren Mitstreiter:innen geht es nicht um akademische Selbstbespiegelung. Was sie uns zeigen, ist die Gestaltbarkeit der Welt, durch soziale Bewegung zum Wohle aller. Ihr Buch ist mit einer Vielzahl von Abbildungen und einer über 40 Seiten langen Fotostrecke prächtig ausgestattet. Wir wünschen ihm weite Verbreitung.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 9/10 / Dezember 2024, S. 490-494)