Wolfgang Haug: Theodor Plievier. Anarchist ohne Adjektive. Der Schriftsteller der Freiheit. Eine Biographie, Bodenburg / Niedersachsen: Verlag Edition AV, 2020, ISBN: 978-3-86841-220-8, 490 Seiten
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Rezension von Markus Henning
Nicht erziehen und nicht führen, sondern als Vorbild wirken! Nicht warten, sondern schon heute selbst ein Beispiel sein! Andere zu eigenem Tun und eigenen Entscheidungen ermuntern, zur Übernahme moralischer Verantwortung, zur Rebellion gegen Unrecht und Unterdrückung!
Das war der Lebensentwurf von Theodor Plievier (1892-1955), dem Proletarierkind aus dem Berliner Wedding, dem Vagabunden, dem freiheitsliebenden Seemann und unterdrückten Weltkriegsmatrosen, dem Räterevolutionär, dem anarchistischen Agitator und Schriftsteller von internationalem Rang. Der libertäre Sozialismus war ihm mehr als bloße Gedankenwelt. Er war ihm konkreter Weltbezug im politischen Engagement wie im literarischen Schaffen. Plievier war existentiell davon überzeugt, dass der Weg in eine freie und lebenswerte Gesellschaft über die Bewusstseinsrevolution der einzelnen Menschen führt. Er setzte Vertrauen in das Individuum, und damit auch in sich selbst.
Welche Robustheit und persönliche Stärke ihm hieraus erwuchsen, wie es ihn immer wieder an den Rand des eigenen Horizonts trieb, um in die Weite der Welt zu blicken – das thematisiert die neue Plievier-Biographie von Wolfgang Haug (geb. 1955). Materialreich und detailgenau zeichnet sie den Lebensweg eines innerlich Unabhängigen nach, eines Anarchisten mit unbedingtem Anspruch. „Die Wahrheit zu schreiben, sah Plievier als ureigenste Aufgabe des Schriftstellers, sie zu unterdrücken, war gleichbedeutend mit der Selbstaufgabe“ (S. 419). Unüberzeugtes Lavieren zwischen vorgegebenen Alternativen war Plievier ein Graus. Dann schon lieber eine konsequente Position des „Dazwischen“!
Selbst in seiner lebenslangen Treue zum Anarchismus entzog sich Plievier einer starren Kategorisierung. Diesbezüglich taten ihm frühere Biographen posthum Gewalt an. Wolfgang Haug arbeitet das sehr schön heraus. Die anarchistischen Strömungsschubladen waren einfach zu eng. Ein kreativer, erfahrungsgesättigter und vielschichtiger Mensch wie Plievier ließ sich dauerhaft in keine von ihnen pressen. „In diesem Sinne passt ein einzelnes Adjektiv, das dem Anarchismus zur Erklärung der jeweiligen Schule oder Richtung beigegeben wird, auf Plievier nicht. […] Will man Plievier gerecht werden, dann nahm er von allen Ideengebern der genannten Schwerpunkte Anregungen in seine eigene Überzeugung auf, so dass er […] als ‚Anarchist ohne Adjektive‘ gelten kann“ (S. 16 und S. 443).
Der christliche Anarchismus Leo Tolstois prägte die Findungsphase des 16-Jährigen (ab 1908). Er schweifte umher, quer durch Europa, über den Ozean bis nach Südamerika, teilte Alltag und Revolte der Ausgebeuteten (1909-1914). Er wurde shanghait, durchlitt den Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Marine und gründete auf hoher See eine anarchistische Zelle. Bücher von Max Stirner, Michail Bakunin und Peter Kropotkin machten den Arrestbunker zum Bildungserlebnis (1914-1918). Er wurde Soldatenrat, Redakteur einer revolutionären Matrosenzeitung, zog in die Schwäbische Provinz, interessierte sich für Lebensreform und Siedlungsexperimente, wurde Verlagsgründer und publizierte individualanarchistisch (1918-1920). Zurück in Berlin stürzte er sich ins anarchosyndikalistische Milieu der Freien Arbeiter Union Deutschlands. Er publizierte in ihrer Presse, übersetzte anarchistische Klassiker für den Verlag Der Syndikalist, absolvierte Vortragstourneen, war als Delegierter aktiv. Auch für die Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands trat er publikumswirksam auf (1920-1923). Es trieb ihn weiter, er wollte seine Ideale umsetzen, im Hier und Jetzt! Ganz im Geiste von Gustav Landauer! Er streifte die Fesseln der großen Organisationen ab, machte sich auf eigene Faust auf den Weg. Er wanderte durch Deutschland, agitierte die Orientierungslosen, erreichte mit seinen revolutionären Flugschriften zeitweise ein Massenpublikum. Seine libertäre Verlagsbuchhandlung und russische Teestube in Berlin wurde zum international bekannten Anlaufpunkt (1923-1925). Plievier blieb libertär vernetzt, entwarf sich aber endgültig neu (ab 1926).
Er fand ein eigenes Literaturkonzept, mit dem er seine anarchistische Haltung adäquat ausdrücken konnte: Selbsterlebtes und dokumentarisch Abgesichertes sollen sich mit fiktional Gestaltetem verbinden. Auf eine Weise, die Gesellschaftliches in seiner Wirkung auf individuelle Schicksale nachvollziehbar macht und es der Leserschaft erlaubt, sich in menschliches Leiden, Schuld und Aufbegehren als wahrhaftig Erlebtem einzufühlen.
Auf künstlerischer Ebene war das der Durchbruch zum großen Epiker. In seinen dokumentarischen Romanen verhandelte Plievier die dramatischen Zeitfenster deutscher und internationaler Geschichte. Des Kaisers Kulis (1930), Der Kaiser ging, die Generäle blieben (1932), Stalingrad (1945), Moskau (1952) und Berlin (1954) beschreiben einen Zyklus von der Matrosenrevolte am Ende des Ersten Weltkriegs bis zum DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953.
Auch für Plievier selbst schloss sich damit ein Kreis um Jahre verzweifelter Selbstbehauptung gegen totalitäre Gewalt und ideologische Vereinnahmung: die Flucht aus Nazideutschland (1933), prekäre Exilstationen in Prag und Paris (1933-1934), elf Jahre Stalinismus in der UdSSR (1934-1945), das Abtauchen aus der ostdeutschen SBZ (1947) und die endgültige Emigration in die Schweiz (1953). Der Spagat zwischen anarchistischer Überzeugung und äußerem Anpassungszwang nahm mehr als einmal lebensgefährliche Formen an. Für Plievier war er unvermeidbar: „[…] so ist es besser und selbständiger und auch zukünftiger gerichtet, zwischen allen Stühlen zu sitzen, als einen bequemen Platz einzunehmen, der nur unter Preisgabe selbständigen und unabhängigen Denkens und Schaffens zu erhalten wäre“ (zit. in: S. 372 f.).
Keiner Macht der Welt wird es je gelingen, menschliche Würde, Freiheitswillen und Gerechtigkeitssinn vollständig zu unterdrücken. Das war die unerschütterliche Zuversicht von Theodor Plievier. Damit hat er sich buchstäblich in die Geschichte des Anarchismus eingeschrieben.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 3 / Juli 2021, S. 287-289)