Auf der Suche nach der Zukunft

Franca Parianen (Hg.): Weltrettung braucht Wissenschaft. Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2023 (= rowohlt Polaris), ISBN: 978-3-499-01006-4, 320 Seiten, 18,00 €

Rezension von Markus Henning

Die Menschheitsgeschichte startete vor etwa 7 Millionen Jahren. So lehrt uns die Archäologie. Verglichen damit wirken die 250 Jahre seit Beginn der industriellen Revolution kürzer als ein Wimpernschlag. Und doch hat uns genau dieses Vierteljahrtausend an den Rand der Selbstvernichtung geführt.

In ihm nahm der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur eine Form an, die unsere Existenzgrundlagen zerstört – und das bis heute, global, mit ungebrochener Dynamik. Treibende Kräfte sind Ungleichheit und Ausbeutung, kapitalistischer Wachstumszwang, strukturelle Hierarchien, staatliche Herrschaft und koloniale Unterdrückung. In noch nie dagewesenem Ausmaß wurden Wasser, Nähr- und Rohstoffe, Ackerböden, Fischbestände und Urwälder über ihre Regenerationsgrenzen hinaus vernutzt und kontaminiert. Habitate und Artenvielfalt sind unwiederbringlich geschrumpft. Treibhausgassenken lösen sich auf. Das Verbrennen fossiler Energieträger eskaliert mit der Erderwärmung eine Klimakatastrophe, welche die Ökosysteme vollends zu verwüsten droht.

Höchste Zeit also, dass wir reparieren, was noch möglich ist. Höchste Zeit aber auch für einen grundlegenden Kurswechsel. Wir benötigen einen neuen Entwicklungspfad. Gesäumt von ökologischen Leitplanken muss er der Weltgesellschaft die Bahn frei machen für eine sozial gerechte, kooperative Wirtschafts- und Lebensweise.

Entsprechende Orientierung und Gestaltungskraft lassen sich aus wissenschaftlichen Quellen schöpfen. Das ist die gelebte Überzeugung von Franca Parianen (geb. 1989). Von der sozialen Neurowissenschaft herkommend ist sie seit über einem Jahrzehnt als Kommunikatorin aktiv. Sie weiß, dass Selbstwirksamkeit eine der besten Methoden ist, um Dinge in Bewegung zu bringen. Und sie weiß, dass es dafür Räume braucht, in denen wir zusammenkommen und unser visionäres Denken trainieren.

Einer solchen Diskursöffnung dient auch das Buch Weltrettung braucht Wissenschaft. Antworten auf die drängenden Probleme unserer Zeit. Darin hat Franca Parianen Fachbeiträge von insgesamt zwölf Menschen versammelt, die sich darauf verstehen, andere in neue Welten zu entführen: „[…] ich kenne sie alle von Science Slams, jenen Wettbewerben, bei denen Wissenschaftler*innen ihre Forschungsthemen in kurzer Zeit auf der Bühne präsentieren – möglichst verständlich, möglichst unterhaltsam, möglichst so, dass das Publikum danach in einer kleinen Applausorgie von den Stühlen gerissen wird“ (S. 16).

Mit diesen Assen der Wissensvermittlung dringen wir jetzt ein ins Labyrinth von Archiven, Labors und Algorithmen. Wir besuchen Produktionsanlagen, kraxeln übers tauende Gletschereis, durchqueren Sumpfgebiete, legen Biotope an und suchen den Meeresgrund nach Plastik ab. Ein didaktischer Road Trip, unterlegt mit anekdotischen Begebenheiten und gewürzt mit einer steten Prise Ironie. Die Empirie lehrt uns Demut. Vom Ernst der Lage erfahren wir mehr, als uns wirklich lieb sein kann. Und doch scheint immer wieder Vorwärtsweisendes auf, ertönt aus den Zwischenräumen Zukunftsmusik. „Wissenschaft kann eben nicht nur mahnen, sondern auch völlig neue Ansätze bieten. […] Selbst wenn unsere Probleme größer geworden sind – unsere Möglichkeiten zur Lösungssuche sind es auch!“ (S. 14).

1) Klima. Maria-Elena Vorrath ist Geowissenschaftlerin an der Uni Hamburg. Ihr Aufsatz trägt den Titel Weniger ist alles. Außerstande, noch länger auf staatlichen Klimaschutz zu warten, hat sie die normale Arbeit niedergelegt und ist in direkte Aktion getreten. Sie und ihr Team forschen jetzt selbsttätig zur gezielten Entnahme von Treibhausgasen aus der Atmosphäre. Ihr Favorit ist die CO2-Verpressung in Basaltgestein mit anschließender Silikatverwitterung zum Feststoff Karbonat. Aber so vielversprechend dieser Ansatz als einer von vielen Bausteinen auch sein mag: Er wird wohl nie mehr als 10 bis 20% der derzeitigen Emissionen binden können. „Es gibt keine technologisch ausgereiftere, effizientere, billigere, umweltschonendere, zeit- und platzsparendere Methode, CO2 außerhalb der Atmosphäre zu verwahren, als Kohle, Öl und Gas dort zu lassen, wo sie seit Jahrmillionen schlummern“ (S. 23-39; hier: S. 37).

2) Energie. Sonne für alle! Das ist das Motto von Daniel Meza Arrendondo, mexikanisch-stämmiger Physiker in Berlin. Am Beispiel Deutschlands berechnet er, wie die dezentrale Selbstversorgung mit erneuerbaren Energien bis 2045 geschafft werden könnte. Ab sofort müsste jedes Jahr eine zusätzliche Fläche in der Größe des Areals, wie es der Berliner S-Bahn-Ring umfasst, mit Solarmodulen bestückt werden – am besten durch Integration in bestehende Strukturen (Parkplätze, Gebäudedächer, Randbebauung etc.). Mitte des Jahrhunderts wäre dann etwa 1% des Landes mit Photovoltaikanlagen bedeckt. Ein Raumbedarf, der nicht einmal in Konkurrenz zur Landwirtschaft stände, die aktuell etwa 50% der Gesamtfläche verbraucht. Im Gegenteil: Die hybride Form des „Agri-Photovoltaik“ bietet Synergieeffekte für beide Nutzungsarten (S. 47-65).

3) Landwirtschaft. Den Verheerungen agrarindustrieller Monokultur ließe sich mit dem sog. „Spot Farming“ begegnen. Es setzt auf eine dezentralisierte, digital unterstützte Präzisions-Landwirtschaft, auf die Wiederentdeckung von kleinen Flächen und auf Ernährungssicherheit durch Anbauvielfalt. Entgegen der Interessen großer Saatgut-Konzerne könnte hierbei auch der Gentechnologie ökologische Bedeutung zuwachsen. Das betont David Spencer, Molekularbiologe aus Aachen (S. 204-218).

Klima- und ÖPNV-Streik in Frankfurt/M. am 01.03.2024; Foto: Henning-Hellmich

4) Rohstoffe. Ann-Kathrin Vlacil ist nicht nur Molekular-, sondern auch Humanbiologin. Sie spürt Auswegen aus der Plastikvermüllung nach und steckt entsprechende Handlungsfelder ab. Hierzu gehört unser Konsumverhalten ebenso wie der Kampf für eine echte Mobilitätswende – automobiler Reifenabrieb gehört zu den größten Quellen von Mikroplastik; allein in Deutschland sind es jährlich bis zu 69.000 Tonnen. Es geht um die Begrenzung von Plastik-Neuproduktion und den Aufbau einer Kreislaufwirtschaft, vor allem aber um die Entwicklung alternativer und natürlich abbaubarer Kunststoffe (vgl. 138-151). Letzteres treibt Simon McGowan um. Als Bioverfahrenstechniker forscht er zu nachwachsenden Rohstoffen wie Mais, Soja oder Zuckerrohr. Als Basis für biobasierte Kunststoffe eröffnen auch sie die Aussicht auf ökonomische Dezentralisierung. „Durch lokalen Anbau der Rohstoffe und ihre direkte Weiterverarbeitung kann […] potentiell überall auf der Welt Kunststoff hergestellt werden. Und das ohne lange Transportwege und unabhängig vom Erdöl“ (S. 156-174; hier: S. 168).

5) Biodiversität. Die Zoologin und Tropenökologin Lydia Möcklinghoff betreibt Feldforschung im Pantanal. Vom Westen Brasiliens bis nach Bolivien und Paraguay reichend, ist es eines der größten Binnenfeuchtgebiete unseres Planeten. Der vergleichsweise üppige Artenreichtum steht selbst hier unter Dauerstress. Zugleich zeigen die seit Jahrhunderten im Pantanal unverändert gebliebenen Bewirtschaftungsmethoden, dass ein Miteinander von Mensch und Natur möglich ist. „Nichts weniger als das nackte Überleben unserer eigenen Art hängt von der Bereitschaft ab, diesen Planeten wieder gerecht zu teilen“ (S. 111-126; hier: S. 119). Als Biologe am Naturkundemuseum Stuttgart hat auch Sebastian Lotzkat einen geschulten Blick für das weltweite Artensterben. Er weiß dessen apokalyptische Potentiale einzuschätzen und kennt den Zusammenhang von biologischer und struktureller Vielfalt. Aus diesem Grund stiftet er zu Renaturierungsprojekten an, die jeder Art von Gleichförmigkeit entgegentreten sollen. Sein ökoanarchistisches Credo lautet: „Im Namen der Vielfalt, nieder mit der Ordnung!“ (S. 88-103; hier: S. 98).

6) Ernährung. Süßes macht glücklich und süchtig. Das gehört zu den Achillesfersen unserer Evolution. Was dem Urmenschen das nackte Überleben sicherte und sich über Millionen von Jahren bewährte, hat sich in Zeiten industrieller Lebensmittelproduktion zur Gesundheitskatastrophe ausgewachsen. Solange sich verarbeitete Esswaren rentabel auf Zucker, Fett und Salz trimmen lassen, steigen die Diabetes-Zahlen. Aktuell sind 6% der Weltbevölkerung, also 420 Millionen Menschen erkrankt. Bei ungebremster Entwicklung werden es in zwei Jahrzehnten bereits 700 Millionen sein. Wie bei anderen Drogen sind Gesundheitspädagogik und soziale Regulierung gefordert. Die Biochemikerin Janina Isabell Otto plädiert zudem für eine zielgerichtete Unternehmensbesteuerung: „Zucker ist gemessen an den Kosten für unsere Gesellschaft einfach zu billig“ (S. 180-195; hier: S. 194).

7) Patriarchat. Die bittere Pille: Wie Sexismus in der Medizin tötet – unter diesem Titel analysiert Sarah Hiltner die strukturelle Diskriminierung nichtmännlicher Gesundheit. Als Soziologin hat sie lange genug an medizinischen Hochschulen geforscht, um zu wissen, wovon sie spricht. Nicht nur, dass in der ärztlichen Wissensgenerierung bis heute der männliche Körper und seine Werte als Norm definiert werden. Selbst bei gleicher Ausgangslage werden Menschen aufgrund ihres biologischen und/oder sozialen Geschlechts unterschiedlich behandelt. Die signifikant höhere Gefährdungslage, der Frauen und transgeschlechtliche Menschen im jetzigen System unterliegen, macht deutlich, wie wichtig es ist, unsere Gesellschaft für eine geschlechtersensible Medizin zu öffnen (S. 243-260).

8) Digitalisierung. Jonas Betzendahl ist Spezialist für Blockchain und maschinelles Lernen. Ihm geht es um die Entzauberung der Computerwissenschaft. So wie Technik niemals neutral sein kann, so sind auch digitale Entscheidungen keineswegs immer sachlich und korrekt. Diskriminierende Muster und Fehleranfälligkeiten schwappen auch in sie hinein. Denn letztlich sind es immer Menschen, die entscheiden, welche Datensätze und Algorithmen zur Anwendung kommen. Das macht eine Verknüpfung mit dem staatlichen Gewaltmonopol so gefährlich. Dem Einsatz von Machine-Learning-Systemen bei Strafverfolgung und Rechtsprechung (Stichworte: Gesichtserkennung; Racial Profiling) muss die Zivilgesellschaft entgegentreten. „Wenn wir alle uns dieser Problematik bewusster werden und versuchen, auf die Entscheidenden in Politik und Gesellschaft, aber auch in unserem Arbeitsumfeld einzuwirken, dann bin ich guter Dinge, dass wir auf Dauer die Magie der Informatik in unserem Leben beherrschen werden, anstatt von ihr beherrscht zu werden“ (S. 72-84; hier: S. 84).

Klima- und ÖPNV-Streik in Frankfurt/M. am 01.03.2024; Foto: Henning-Hellmich

9) Engagement. Lern- und handlungsfähig werden wir nur in Interaktion mit anderen. Wer die Welt retten will, braucht neben Wissenschaft vor allem konkrete Erfahrungen und braucht menschlichen Austausch auf Augenhöhe. Der Komplexität unserer Lebenswelt sollten wir mit einer entspannten Kultur des Nichtwissens begegnen – so der Historiker Christian Krumm. Denn das Fragen ist die wichtigste Quelle der Erkenntnis (S. 225-238). Auch Franca Parianen betont, dass wir Freiheit, Zeit und Muße brauchen, um unsere kooperativen Potentiale zu entfalten. Als Menschen sind wir komplexe Wesen, mit Hoffnungen und mit Träumen, mit Hirn und mit Hormonen. Unsere Bedürfnisse nach Sinngebung, nach intrinsischer Motivation und nach Gerechtigkeit werden wir erst dann in vollem Maß verwirklichen können, wenn wir Hierarchien überwinden und wenn wir öffentliche Güter und Teamarbeit wiederentdecken (S. 265-281).

Weltrettung braucht Wissenschaft ist eine wichtige Publikation. Sie zeugt von radikalem Optimismus. Die Spannbreite ihrer Themen lässt den Gedanken Raum zum Nachhallen und stößt Pforten in die Zukunft auf. Sie laden zum Hindurchgehen ein. Wir wünschen Franca Parianen mit diesem Buch viel Erfolg!