Anarchistischer Antimilitarismus und die Kulturtechnik gewaltfreier Revolution

Gernot Jochheim: Antimilitarismus und Gewaltfreiheit. Die niederländische Diskussion in der internationalen anarchistischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940, hrsg. v. Wolfram Beyer, Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 2021, ISBN: 978-3-939045-44-1, 356 Seiten
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Rezension von Markus Henning

Der Militarismus lässt sich nicht einfach abstreifen wie eine Uniformjacke. Er ist nichts rein Äußerliches. Er ist ein kulturelles Syndrom, das sich in die Mentalitäten und Selbstbilder einprägt, das Beziehungen deformiert und Dispositionen der Gewalt erzeugt.

Umgekehrt erfuhren Konzepte einer aktiv-gewaltlosen Gesellschaftsveränderung schon sehr früh entscheidende Weichenstellungen gerade in solchen Ländern, die weniger als andere durch militaristische Traditionen belastet waren.

Was Europa betrifft, blieb das Wissen hierüber lange unter den Trümmern von Faschismus und Zweitem Weltkrieg verschüttet. Als Handreichung für aktuelle Debatten musste es erst wieder freigelegt werden. Dazu haben wohl wenige so viel beigetragen wie Gernot Jochheim (geb. 1942). Bereits 1977 veröffentlichte er eine wegweisende Dissertation. Sie zeichnete den tiefen und weitreichenden Diskussionsprozess nach, der die pazifistische Bewegung der Niederlande in den fünf Jahrzehnten von 1890-1940 zu einem international maßgeblichen Fokus des Antimilitarismus machte.

Auf dieser Zeitreise können wir den Autor jetzt wieder begleiten. Der Verlag Graswurzelrevolution hat eine populärwissenschaftliche Neufassung vorgelegt, herausgegeben von Wolfram Beyer (geb. 1954). Dessen Überarbeitung ihrer ehemals akademischen Struktur lässt Jochheims Untersuchung in ruhig fließender Anmut lesefreundlich zu Tage treten.

Anschaulich werden die Entwicklungsschritte wichtiger Protagonisten und die Genese ihrer Ideen im holländischen Netzwerk aktionistischer Kriegsgegnerschaft. Alles Persönlichkeiten, deren tiefergehende Kenntnisnahme im deutschsprachigen Raum immer noch aussteht: Von Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846-1919) und Christian Cornelissen (1864-1943) über Henriette Roland Holst (1869-1952), Pierre Ramus (1882-1942), Bart de Ligt (1883-1938) und Clara Wichmann (1885-1922) bis hin zu Albert de Jong (1891-1970) oder Arthur Müller-Lehning (1899-2000). Jeder und jede verkörpert auf je eigene Weise die wesentliche Bedeutung anarchistischer Impulse für Theorie und Praxis gewaltfreier Konfliktaustragung.

Das herauszuarbeiten, ist ein Grundanliegen von Gernot Jochheim. Gleich zu Beginn seiner Studie stellt er klar: „Es ist eine der hartnäckigsten historischen und aktuellen politischen Lügen, dass Gewaltanwendung und ihre Propagierung ein konstitutives Merkmal des Anarchismus sei. Es wird hingegen zu sehen sein, dass es in der marxistischen politischen Bewegung bei weitem keine so intensive Auseinandersetzung mit der Problematik von Gewalt und Gewaltlosigkeit im Klassenkampf generell und im antimilitaristischen Kampf im Besonderen gegeben hat wie in den Hauptströmungen des Anarchismus“ (S. 17).

In der Tat waren es im Wesentlichen zwei Einflussgrößen, die den holländischen Diskurs für den Zusammenhang von Antimilitarismus, prinzipieller Gewaltablehnung und emanzipatorischer Neugestaltung öffneten: Zunächst der christliche Anarchismus tolstoianischer Prägung mit seinem Ethos der „Wehrlosigkeit“ als zivilem Ungehorsam und seiner Ausrichtung auf experimentalsozialistisches Beginnen. Später dann der Anarchosyndikalismus mit seinem spezifischen Transformationsverständnis der kollektiven direkten Aktion.

Mit diesen Inspirationsquellen konnten die historischen Zäsuren der Zeit produktiv ins Auge gefasst werden (Erster Weltkrieg; Bolschewistische Diktatur in Russland; Spanische Revolution; Faschistischer Terror). Fortschreitende Analyse und argumentativer Austausch entfalteten sich zu einer komplexen Theoriebildung gewaltfreier Revolution und sozialer Verteidigung. Dabei ist bemerkenswert, wieviel die damaligen Vordenker:innen schon von dem vorwegnahmen, was erst Jahrzehnte später – nämlich ab Beginn der 1960er Jahre – vom sogenannten Pragmatischen Anarchismus wieder neu entwickelt wurde.

Augenfällig wird das im lerntheoretischen Ansatz, der die traditionellen Muster politischer Revolution und militärischer Landesverteidigung durch neue Handlungskonzepte ersetzt: Herrschaft und Gewalt lassen sich nur überwinden durch einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und moralischen Wandel, mit dem schon heute nach Maßgabe der anarchistischen Ziel-Mittel-Relation begonnen werden muss.

Der gewaltlosen direkten Aktion kommt dabei eine grundlegende pädagogische Funktion zu. Sie ist nicht allein auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet, sondern drückt zugleich einen Lernprozess der Beteiligten aus, den sie selbst wieder voranbringt (Stichwort Rolleninnovation). Eine neue Kultur vielfältiger Selbstorganisation als aktive Einübung befreiten und friedlichen Zusammenwirkens mit Ausstrahlungskraft auf andere. Sie vollzieht sich auf diese Weise nicht nur in Dienstverweigerung und praktischer Kritik der Destruktionskräfte, sondern auch in der Idee des verantwortlichen Produzierens und der Errichtung neuer gesellschaftlicher Modelle: „[…] so sollen auch durch das Heraustreten von massenhaften Gruppen aus dem bestehenden Produktionssystem, mit der Übernahme von Produktionsmitteln und Grundstoffen, langsam Oasen in der kapitalistischen Wüste gebildet werden“ (Pierre Ramus [1927], zit. in: S. 179).

Die Behauptung, dass Gewaltanwendung im revolutionären Prozess unabdingbar sei, hat den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Noch zu viele Menschen stehen in ihrem Bann. Das Buch von Gernot Jochheim bietet ein Gegengift.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 4 / Januar 2022, S. 314-316)