Gert Möbius: Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser, 2. Aufl., Berlin: Aufbau Verlag, 2016, ISBN 978-3-351-03627-0, 351 Seiten
Rezension von Markus Henning
„Halt dich an deiner Liebe fest“ – ein unerwartetes Motto für ein politisch engagiertes Künstlerleben in Zeiten sozialrevolutionären Aufbruchs! Und doch wählte Gert Möbius genau diesen Titel für die Biographie seines Bruders Ralph Christian (1950-1996), bekannt als Rio Reiser. Und er hat gut daran getan.
In einem kreativen Familienumfeld aufgewachsen, hatte Rio Reiser sich bereits früh in Theaterprojekte seiner beiden älteren Brüder eingebracht. 1967 ging er nach Westberlin, um sich unbehelligt von der Bundeswehr weiter als Musiker, Komponist, Schauspieler und Theaterautor verwirklichen zu können. In der westdeutschen Provinz war er ansatzweise politisiert worden. Jetzt verstand er die herrschaftskritischen Anliegen der studentischen Demonstrationen nur zu gut. Aber mit den verkopften Marxismus-Debatten, wie sie im SDS gepflegt wurden, konnte er wenig anfangen.
Ihn faszinierten die subproletarischen Underdogs und Trebegänger aus Kreuzberg: „Wir brauchen die Wut, die Kraft und den Witz dieser coolen Straßenkater, die hier durch die Gegend ziehen“ (S. 112). Schon bald war Rio Reiser mitten drin in der neoanarchistischen Jugendrebellion, wurde ab 1970 zusammen mit Ton Steine Scherben so etwas wie ihr musikalisches Sprachrohr. Rock-Songs wie Macht kaputt, was euch kaputt macht oder Keine Macht für Niemand gingen ins subkulturelle Gedächtnis ein als Hymnen militanter Kämpfe für selbstbestimmte Freiräume, für andere Formen kollektiven Lebens und für eine neue Gesellschaft ohne Zwang und Unterdrückung.
Sie machten die Band und ihren Sänger aber auch zur Projektionsfläche kollektiver Ansprüche, stellten ihre weitere Entwicklung in ein Spannungsfeld zwischen politischer Auftragsarbeit und künstlerischer Selbstbehauptung. Keine Seltenheit, dass bei Plattenaufnahmen Abgesandte linksradikaler Gruppen auftauchten und „ein kämpferisches Lied“ (S. 165) einforderten. Anmaßungen aus dem Publikum konnten aus Konzerten und Tourneen einen Nervenkrieg machen.
Mit den Organisationen der alten Linken gab es sowieso nur Ärger. Am 15.7.1974 notierte Rio Reiser in seinem Tagebuch: „In Braunschweig war wieder Straßentheaterfestival, veranstaltet von DGB und DKP. Wir waren da irgendwie fehl am Platz. Waren wohl zu anarchistisch“ (S. 216).
Bei den neuen K-Gruppen war längst eine Kehrtwende zum spießigen Proletkult erfolgt. Ihre marxistisch-leninistischen Wahrheitshüter setzten auf Ausgrenzung subkultureller Elemente. Lange Haare, Drogenkonsum und Ekstase passten nicht in ihr Bild vom sauberen deutschen Arbeiter. Sie warfen Rio Reiser „Schwules Gehoppse“ (S. 297) vor.
Aber selbst in Anarcho-Kreisen, in besetzten Häusern, selbstverwalteten Jugendzentren, Wohnkommunen und Stadtteilinitiativen, also da wo Ton Steine Scherben sich selbst verorteten, grassierte ein instrumentelles Verständnis von Kultur. Wie selbstverständlich wurden Szene-Künstler auch hier als Dienstleister mit festumrissener Aufgabe begriffen: Sie hatten die politische Identität ihres Publikums zu bestätigen! Nicht mehr und nicht weniger! Alles andere fiel schnell unter das Verdikt „Verrat an der Weltrevolution“ (S. 292)!
Eine Zeit kollektiver Selbstgewissheiten und emotionaler Verhärtungen. Rio Reiser versuchte trotzdem einen eigenen Weg zu gehen, gerade um den politischen Anspruch an seine Kunst nicht aufzugeben. Tiefe Einblicke bieten die bisher unveröffentlichten Texte aus Tagebüchern und Briefen, die Gert Möbius in seiner Rio Reiser-Biographie präsentiert.
Ein Schlüsseldokument ist der Brief vom 24. November 1976, in dem Rio Reiser auf den Vorwurf reagiert, die Scherben hätten über eine Flucht in die Innerlichkeit den militanten Kampf und das politische Ziel aus den Augen verloren:
„Mein Ziel ist Himmel, Sonne, Sterne, lächeln, träumen, Bäume, Tiere, Früchte, säen, ernten, singen, tanzen, schlafen, bauen, leben ohne Angst. Leben, Lieben. Der Kampf ist der Weg dahin. Vergisst Du nicht vielleicht über dem Weg das Ziel?
Es gibt viele Kampfformen. Genau so viele wie Unterdrückungsformen. Auch das Lächeln von jemand Wildfremden mitten in der Frankfurter City, das Lächeln ohne Hintergedanken (also kein Hare-Krishna-komm-zu-uns-lächeln) ist eine Kampfform. […] Warum können wir uns nicht zurückziehen, wenn wir den Herrschenden im Augenblick nicht gewachsen sind. Warum können wir uns nicht zurückziehen, ohne uns in tausend Fronten und Grüppchen zu zersplittern. Warum können wir die Zeiten ohne Straßenkampf nicht ertragen, ohne uns gegenseitig den Schädel einzuschlagen“ (S. 241 f.; Orthographie des Originals beibehalten).
Nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, holte ich meine alten Rio Reiser-CD’s aus dem Keller. Nach langen Jahren hörte ich auch wieder das Lied Wohin gehen wir (1993). Darin singt Rio: „Wer nicht liebt, der wird zu Stein / Und das wird niemals anders sein.“
Ich glaube, diese Zeilen verstehe ich jetzt besser. Dafür danke ich Gert Möbius.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 0 / Januar 2020, S. 81-83)