Gustav Landauer: Die drei Flugblätter des Sozialistischen Bundes, 4. korr. Aufl., Berlin: Gustav Landauer Denkmalinitiative, 2018, ISBN 1811104, 43 Seiten
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Rezension von Markus Henning
Am 2. Mai 2019 jährte sich zum hundertsten Mal die Ermordung Gustav Landauers. Bei seiner Einlieferung ins Gefängnis München-Stadelheim wurde er nach bestialischer Misshandlung von Soldaten erschossen.
Der konsequente Antimilitarist Landauer war unmittelbar nach Kriegsende und Absetzung der Monarchie am 7. November 1918 nach München geeilt, um am revolutionären Neuaufbau mitzuwirken. Vom 7.-13. April 1919 bekleidete er in der ersten Münchener Räterepublik das Amt des Volksbeauftragten für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste. Die von ihm eingeleiteten Maßnahmen waren für damalige Zeit ungeheuer fortschrittlich (z.B. Selbstverwaltung für Hochschulen und Kulturinstitutionen; Politische Bevölkerungsbildung; Einführung von Einheitsschulen und Abschaffung der Prügelstrafen). Sie machten ihn aber auch zum bevorzugten Hassobjekt nationalistisch-reaktionärer Kreise.
Nach der militärischen Eroberung Münchens am 1. Mai 1919 begannen Reichswehr und rechtsradikale Freikorps mit der brutalen Niederschlagung der Revolution. Schätzungen gehen von mehr als 1.000 Todesopfern aus. Die Zahl der Verhaftungen und anschließenden Prozesse betrug ein Vielfaches.
Gustav Landauer (geb. 1870) hatte über drei Jahrzehnte die anarchistische Bewegung im deutschen Kaiserreich an exponierter Stelle mitgeprägt. Zu den stärksten Stücken seiner politischen Publizistik gehören Die drei Flugblätter des Sozialistischen Bundes (1908-1910). Komprimiert und eingängig bündeln sie wesentliche Momente eines Revolutionsprojekts, das ideengeschichtlich der Tradition des Tauschsozialismus folgt. Zu dieser Traditionslinie gehörten große Sozialreformer des 19. Jahrhunderts (z.B. Robert Owen, Pierre Joseph Proudhon). Auf ihr fußte aber auch Landauers Zeitgenosse Silvio Gesell (1862-1930). Im Denken von Landauer und Gesell schwingt dieselbe Grundmelodie. Beide verorten die Quellen kapitalistischer Ausbeutung in der gesellschaftlichen Zirkulationssphäre und im Privateigentum an Grund und Boden.
Die Zinswirtschaft leitet Landauer aus einer monetären Funktionsverkehrung ab. Statt „Mittel des Tausches“ ist das kapitalistische Geld „König und Erpresser“ (S. 29). Die Zahlung des Zinses wird den arbeitenden Menschen in ihrer Funktion als Konsumenten abverlangt. Eine Strukturanalyse, die weitgehend mit der Geldtheorie Silvio Gesells harmoniert (siehe Kapitel 5.2 der Natürlichen Wirtschaftsordnung [NWO] über den „Urzins“ und seine Erhebung durch den kaufmännischen Zwischenhandel).
Systemisch abgesichert wird das fehlerhafte Getriebe durch die eigentumsrechtliche Monopolisierung von natürlichen Ressourcen. In seiner Kritik unterlegt Landauer die ökonomische Argumentation mit naturrechtlichen Erwägungen: Der Boden und seine Schätze sind keine Kapitalgüter. Da sie nicht von Menschenhand geschaffen wurden, gehören sie rechtmäßig der Allgemeinheit. Auch in dieser Frage steht Landauer nahe bei Gesell (siehe Kapitel 2.5 der NWO).
Landauers Therapievorschläge sind eigenständig. Als antiautoritärer Sozialist fordert er einen föderalen Neuaufbau von den kleinsten sozialen Einheiten her auf Basis individueller Selbstbestimmung und freier Vereinigung. Daher geht es ihm um den aktiven Aufbau ökonomischer Gegenstrukturen in Konsum-, Produktions- und Siedlungsgenossenschaften. „Wir wollen nach Möglichkeit aus dem Kapitalismus austreten; […] wir wollen, soweit es geht, und es wird immer bessergehen, wenn wir nur erst beginnen, alle unsere Bedürfnisse selbst herstellen und bald auf unsrem neuen, dem sozialen Markte tauschen und den kapitalistischen vermeiden“ (S. 32). In seiner ordnungspolitischen Zielvorstellung umreißt Landauer ein sich permanent revolutionierendes Sozialleben „in gerechter Wirtschaft“ (S. 31). Über vielfältige Zusammenschlüsse in Gemeinden, Kreisen und Provinzen sollen die Menschen gemeinschaftlich zusammenwirken und den Landbesitz periodisch immer wieder neu aufteilen.
Dem Freiland-/Freigeld-Ansatz der NWO widersprach diese Konzeption nicht grundsätzlich. Weder für Gustav Landauer noch für Silvio Gesell war es ein Problem, in der ersten Münchener Räterepublik in verantwortlicher Position zusammen zu arbeiten. Ein Engagement, dass Landauer unter den Stiefeln einer antisemitisch aufgehetzten Soldateska mit dem Leben bezahlte.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: Fairconomy, Jg. 15 / Nr. 1 – März 2019, S. 20)