Zum 150. Geburtstag von Silvio Gesell am 17. März 2012

50. Mündener Gespräche in Fuldatal-Simmershausen

Tagungsrezension von Markus Henning

Die Sozialwissenschaftliche Gesellschaft 1950 e.V. (SG) gehörte zu den dienstältesten Organisationen der Freiwirtschaftsbewegung in Deutschland. Vom 16.-18. März 2012 hatte sie zur 50. Veranstaltung ihrer Mündener Gespräche in die Reinhardswaldschule Fuldatal geladen. Anlass war ein besonderer Jahrestag: Der 150. Geburtstag von Silvio Gesell (1862-1930). Mit sieben Referenten aus dem In- und Ausland hatte die SG ein hochkarätig besetztes Tagungsprogramm vorbereitet. Um sich gemeinsam auf Leben, Werk und Aktualität des deutsch-argentinischen Begründers der Freiwirtschaftslehre zu besinnen, waren an die 70 Besucher:innen angereist.

Ihnen dürfte Tagungsleiter Jörg Gude aus der Seele gesprochen haben, als er seine einleitenden Überlegungen zur freiwirtschaftlichen Traditionspflege in dem Credo zusammenfasste: „Wir bewahren nicht die Asche, sondern das Feuer!“ In der Tat brennt im Gesellschen Erbe ein Feuer, an dem sich auch das anarchistische Herz erwärmen kann – das wurde im Laufe der folgenden Vorträge und Diskussionen mehr als einmal deutlich.

Zu den Grundproblemen wirtschaftswissenschaftlichen Denkens gehört seit jeher seine Praxisferne. Die allermeisten Ökonomen bewegen sich in einer abgeschlossenen Welt abstrakt mathematischer Modelle und kennen das konkrete Geschäftsleben nur von außen aus der Perspektive ihres universitären Elfenbeinturms. Im Gegensatz hierzu war Silvio Gesell als Autodidakt unbelastet von akademischen Vorurteilen, konnte als erfolgreicher Kaufmann und Kosmopolit gleichsam aus dem prallen Leben schöpfen.

Der Phase von Gesells Biographie, in welcher dieser seine großen Entdeckungen machte oder zumindest die Grundlagen ihrer späteren Ausarbeitung schuf, widmete sich Gerhard Senft in dem Referat Silvio Gesells Argentinien – Wirtschaftsentwicklung und Währungspolitik 1880 bis 1900. Als 25-jähriger Auswanderer hatte Gesell 1887 in Buenos Aires ein Importgeschäft für medizinische Artikel gegründet, das er über zwölf Jahre hinweg als florierendes Unternehmen durch das krisenhafte Auf und Ab der argentinischen Wirtschaftsentwicklung steuerte. Die äußeren Wirrnisse, insbesondere die fatalen Folgen der staatlichen Geldverwaltung mit ihrem extremen Wechselbad von Inflation und Deflation, nahm Gesell als kaufmännische Herausforderung an.

Genaue Beobachtungsgabe und intuitives Gespür für systemische Zusammenhänge ließen sein Denken aber schon bald über den betriebswirtschaftlichen Horizont hinaus Raum greifen in Richtung monetärer Konjunkturtheorie und radikaler Sozialreform. Aus eigener Erfahrung heraus problematisierte Gesell die marktwidrige Vormachtstellung des kapitalistischen Geldes und seine strukturelle Überlegenheit im Tauschprozess gegenüber menschlicher Arbeit und verderblichen Waren. Als potentiell hortbares Zirkulationsmittel treibt es den Zins als seinen Knappheitspreis hervor. Mit der Identifikation dieses kardinalen Konstruktionsfehlers eröffnete sich Gesell schlaglichtartig ein tieferes Verständnis für die Gebrechen des herrschenden Wirtschaftssystems und die Möglichkeiten ihrer Überwindung.

Mit seiner Idee „rostender Banknoten“ schlug die Geburtsstunde der freiwirtschaftlichen Geldreform: Die Erhebung einer permanenten Umlaufsicherungsgebühr würde das Geld den Waren gleichstellen, würde es unter Angebotsdruck setzen und seine Zirkulation verstetigen. So könnte ein Weg gebahnt werden aus dem fatalen Teufelskreis von Preisniveauschwankungen und Wirtschaftsstockungen, sozialem Elend und zinsbedingter Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Schon bald verdichteten sich Gesells Überlegungen zum Projekt „einer vom Kapitalismus befreiten Marktwirtschaft“. Um dieses ordnungspolitische Ziel dauerhaft erreichen zu können, müsste allerdings noch eine weitere Strukturreform grundlegender Art hinzutreten: Die vollständige Überführung des nicht vermehrbaren Naturgutes Grund und Boden in gesellschaftliches Eigentum, die Vergabe von Nutzungsrechten im Pachtverfahren und die Ausschüttung der hierüber erzielten Erträge an die Allgemeinheit.

Mit den Einzelheiten dieser Säule seines Reformbaus trat Gesell erst an die Öffentlichkeit, nachdem er und seine Familie im Jahr 1900 wieder nach Deutschland bzw. in die Schweiz zurückgekehrt waren. Gleichwohl muss auch die Bodenreform als das zweite große Thema der Freiwirtschaft auf Gesells argentinische Erfahrungen zurückgegangen sein. Der Agrarsektor seines südamerikanischen Gastlandes war dominiert von einem Großgrundeigentum, das seine riesigen Ländereien fast ausschließlich der Viehwirtschaft vorbehielt. Die hieraus entspringenden Strukturprobleme – einseitige Exportorientierung, Fehlen eines bäuerlichen Mittelstandes und spekulationsbedingt unerschwinglich hohe Bodenpreise – dürften Gesells schöpferischem Geist Anstoß gegeben haben, sich konzeptionell auf die Suche nach Alternativen zu begeben.

Bei deren konkreter Ausgestaltung war ein sozialrevolutionärer Einfluss wegweisend, der sich ebenfalls bis in die frühen argentinischen Jahre zurück verfolgen lässt – auch hierauf wies Gerhard Senft, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, im Rahmen seiner sozialgeschichtlich fundierten Ausführungen nachdrücklich hin: In Argentinien fand Gesell eine radikal-aktionistische, am Anarchosyndikalismus ausgerichtete Arbeiterbewegung vor, die tiefe Spuren in seinem politischen Denken und Fühlen hinterlassen sollte.

Auch dies eine grundlegende Weichenstellung mit weitreichenden Folgen, deren dogmengeschichtlicher Einordnung sich Cordelius Ilgmann von der Universität Münster widmete. In seinem Vortrag Silvio Gesells Platz in der ökonomischen Theorieentwicklung arbeitete Ilgmann mit erfrischender Deutlichkeit heraus, dass sich das vom Begründer der Freiwirtschaft formulierte Reformprogramm als eine Spielart des libertären Sozialismus verstehen lässt.

Sowohl auf werkimmanenter wie auf biographischer Ebene lassen sich hierfür gewichtige Gründe ins Feld führen: Seit Mitte der 1890er Jahre bezog Gesell sich durchgängig und intensiv auf das Werk der anarchistischen Sozialphilosophen Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) und Max Stirner (d.i. JohannCaspar Schmidt; 1806-1856), pflegte einen kooperativen Kontakt mit libertären Aktivisten wie Gustav Landauer (1870-1919) oder Erich Mühsam (1878-1934) und setzte sich auch lebenspraktisch für anarchistische Projekte ein, beispielsweise als Volksbeauftragter für Finanzen in der Bayerischen Räterepublik vom April 1919. Schließlich verband Gesell – und darin ist eine originäre inhaltliche Leistung zu sehen – sein antikapitalistisches Wirtschaftsmodell mit einer auf Selbstorganisation und konsequentem Staatsabbau zielenden Sozialutopie zu einem ganzheitlichen Gesellschaftsentwurf.

Besonders Gesells späte Schriften können als ein politisches Testament der Herrschaftslosigkeit gelesen werden, an dem sich allerdings schon zu seinen Lebzeiten die Geister schieden. Bis heute bewegen sich die Reaktionen selbst innerhalb der freiwirtschaftlichen Anhängerschaft von entschiedener Zustimmung über peinlich betretenes Schweigen bis hin zu emotional aufgeladener Abwehr.

Dieses kontroverse Spektrum gab auch bei den 50. Mündener Gesprächen eine gleichsam fortlaufende Hintergrundmelodie ab. Als spürbare Dissonanz drängte sie sich in den Vordergrund gerade bei den Debatten, die sich mit dem Problem der Staatlichkeit befassten.

Eine Art etatistischer Maximalposition wurde dabei von Thomas Betz aus Berlin vertreten, der dafür plädierte, jeder Möglichkeit privater Geldschöpfung durch die Geschäftsbanken den Boden zu entziehen und in Gestalt einer „Monetative“ das staatliche Währungsmonopol in rigider Form wiederherzustellen. Auch Dirk Löhr von der Fachhochschule Trier schlug vor, „[…] Gesell in seinen anarchistischen Träumen zu relativieren.“ Löhr forderte einen von Partikularinteressen freien und dadurch „starken Staat“, der sich im ordoliberalen Sinne mit dem Setzen und konsequenten Überwachen ordnungspolitischer Rahmenbedingungen befassen solle.

Dass die derart vorstrukturierten Perspektivdiskussionen letztlich hinter ihren inhaltlichen Möglichkeiten zurückblieben, verdeutlicht im Grunde nur die Dringlichkeit der verhandelten Fragen. Unter den aktuellen Bedingungen einer grassierenden Verschuldung und zunehmenden Handlungsunfähigkeit der westlichen Industriestaaten stehen politische Konzepte, die auf eine wie auch immer geartete Ausweitung staatlicher Einflusssphären abzielen, augenscheinlich vor einem Dilemma. Eine vorurteilsfreie Rückbesinnung auf die libertären Positionen Silvio Gesells könnte der Freiwirtschaftsbewegung weiterführende Impulse vermitteln.

An entsprechenden Anknüpfungsmöglichkeiten herrscht kein Mangel im hinterlassenen Werk des Jubilars. Ein- und Ausblicke bot nochmals das von Fritz Andres skizzierte Zukunftsbild, mit dem die trotz aller Kontroversen in freundschaftlicher Atmosphäre verlaufende Tagung ihren anregenden Abschluss fand. Unter dem Titel Polaritäten und Parallelen zwischen Geld- und Bodenreform verwies Andres auf den engen Zusammenhang, der im Gesellschen Programm zwischen sozialer Gleichheit und radikal verstandener Freiheit besteht.

Die Abschaffung wirtschaftlicher Ausbeutung, die Herabminderung von Privilegien und privater Macht zu bloßen Nutzungsrechten – kurz: die Herstellung einer monopolfreien Marktordnung – begriff Gesell als Wurzel individueller Entfaltungsmöglichkeiten und Voraussetzung freier Gemeinschaftsbildung.

Perspektivisch beinhaltet die Freiwirtschaft ein Gegenmodell zur hierarchischen Verstaatlichung sozialen Lebens. Die ersten Schritte zu diesem großen Ziel umriss Fritz Andres, Vorstandsmitglied im Seminar für freiheitliche Ordnung (Bad Boll), mit einem sympathischen Bild: „Die Geld- undBodenreform löst die Konzerne auf wie der Tee den Würfelzucker.“

———————————————

Silvio Gesell: „Reichtum und Armut gehören nicht in einen geordneten Staat.“ Werkauswahl zum 150. Geburtstag am 17. März 2012, zusammengestellt v. Werner Onken, 2. überarbeitete Aufl., Kiel: Gauke GmbH. Verlag für Sozialökonomie, 2012, ISBN 978-3-87998-462-6, 230 Seiten

Rezension von Markus Henning

Eine gute Möglichkeit, den angesprochenen Fragestellungen in eigenem Quellenstudium nachzugehen, bietet eine Auswahl aus Silvio Gesells Schriften, die aus Anlass seines 150. Geburtstages im Verlag für Sozialökonomie erschienen ist. Zusammengestellt wurde sie von Werner Onken, dem Begründer des Archivs für Geld- und Bodenreform und Herausgeber der 18-bändigen Gesell-Werkausgabe.

Die inhaltliche Gliederung nach Themenbereichen, innerhalb derer die jeweiligen Gedankengänge Gesells in ihrer chronologischen Entwicklung nachzuvollziehen sind, eröffnet auf methodisch stringente Weise einen umfassenden Einblick.

Das Bemühen, mit dem Anarchismus in einen konstruktiven Dialog zu treten, tritt auch hierbei als eines der durchgehenden Motive hervor, die Gesell über nahezu alle Perioden seines Schaffens mit der ihm eigenen Beharrlichkeit und existentiellen Entschlossenheit verfolgte: „Ich bin Individualist, Eigenständler, lehne also für den Menschen jede Bevormundung durch andere Menschen ab. Die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortung will ich verstärken, vertiefen. (…) Keine Knechte, keine Herren! Alle diese Abhängigkeiten will ich auflösen.“ (S. 110).

Eine unbedingt lesenswerte Publikation!

(Diese Sammelrezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero. Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, Berlin / Neu Wulmstorf, Jg. 19 / Nr. 72 – Juni 2012, S. 16-20)